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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

931–933

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rademacher, Anne

Titel/Untertitel:

Achtet auf das, was ihr hört! (Mk 4,24). Das Markusevangelium als Lesebuch für Gemeinden.

Verlag:

Würzburg: Echter 2011. XXXIV, 302 S. 23,0 x 16,5 cm = Erfurter Theologische Studien, 98. EUR 24,00. ISBN 978-3-429-03318-7.

Rezensent:

Martin Meiser

»Exegese trifft Gemeindepastoral« (V) – Ziel des Buches der als »Referentin im Seelsorgeamt mit Schwerpunkt Begleitung, Aus- und Weiterbildung von Ehrenamtlichen« im Bistum Erfurt (so der Klappentext) tätigen Autorin Anne Rademacher ist es, »aufzuzeigen, wie biblische Texte heute in christlicher Gemeinde dargeboten werden können« (5). Das Buch ist dreigeteilt: Einer »Einleitung« mit Abklärung des methodischen Zugangs folgt die Analyse zentraler Texte, während der Schlussabschnitt »Das Mk im liturgischen Gebrauch christlicher Gemeinden« gottesdienstliche und außergottesdienstliche Rezeptionsvorgänge thematisiert.
In der exegetischen Methodik sind für R. die narratologischen Zugänge entscheidend, vor allem die Unterscheidung zwischen story und discourse, die Erarbeitung der Textpragmatik, der Verweis auf Rückblenden (Mk 1,2 f.) und Vorblenden (Mk 13 sowie Mk 8,29 als nachösterliches Bekenntnis) und der Aufweis der Ironie im Markusevangelium: Erwartungen werden im Leser aufgebaut, um dann durchbrochen zu werden. Der Judenchrist Markus will mit seinem nach 70 geschriebenen Werk Tradition sichern und ein facettenreiches Bild Jesu bieten (22); es setzt eine christliche Ge­meinde als informierte Lesergemeinschaft voraus, schafft und fes­tigt diese aber immer wieder neu (28). Die Adressatengemeinde ist mehrheitlich heidenchristlich (31); sie lebt außerhalb Israels (35).
Im exegetischen Hauptteil werden Mk 1,1(–15); 16,1–8; 8,27–9,13; 3,7–4,34 sowie Mk 13 eingehender analysiert, weitere Texte werden jeweils ohne Rücksicht auf ihren Ort im Gesamtwerk eingebracht.
Mk 1,1–15 ist für den Leser die Schwelle, die Textwelt des Markusevangeliums zu betreten. In Mk 1,1 (Langtext) beansprucht Markus, nichts weniger als die Grundlage des Bekenntnisses der Gemeinde zu formulieren. Der »Anfang des Evangeliums« ist die Geschichte Jesu insgesamt; die Genitivwendung »Evangelium Jesu Christi« ist »auf der Discourse-Ebene und aus Sicht der Gemeinde zu verstehen« und »in erster Linie objektiv zu deuten« (73). Bezieht sich besagte Wendung als »feste Größe« (77) in urchristlicher Sprache auf Tod und Auferstehung Christi als Kern des Bekenntnisses, so modifiziert es der Evangelist: Zu beidem »tritt der Weg des Irdischen als ebenfalls bedeutend hinzu« (81).
Von Mk 16,1–8 werden vor allem V. 7 f. bedacht. Das Schweigen der Frauen, auf der Ebene der story unverständlich, wird auf der Ebene des discourse zur Aufforderung an die Leser, selbst zu Verkündigern des Evangeliums zu werden (70); der Auftrag, nach Ga­-liläa zu gehen (Mk 16,7), wird zum Auftrag an den Leser, das Markusevangelium erneut zu lesen und Jesu irdischen Weg erneut zu bedenken.
Durch das Stilmittel der Ironie werden, wie die Analyse von Mk 8,27–9,13 zeigt, Herrlichkeit und Leiden in Spannung zusammengehalten, auch für die Existenz der Glaubenden (85–87). Der Leser wird sich zunächst mit den Jüngern identifizieren, aber angesichts ihres Verhaltens anlässlich der Leidensankündigung zunehmend auf Distanz gehen (91; Mk 6,52; 7,17 f. bleiben unberücksichtigt – das mag dem pastoralen Anliegen geschuldet sein). Mit Mk 9,7 sind die drei Jünger auf dem Wissensstand der Leser, mit Mk 9,9 f. ist der Leser den Jüngern aber wieder voraus, weil er um die Auferstehung Jesu weiß.
Die Gleichnisrede Mk 4 wird durch Mk 3,7–35 vorbereitet: Mit der Konstitution des Jüngerkreises wird zwischen innen und außen differenziert; dabei steht auch den Gegnern der Zugang offen, vgl. die analoge Verwendung des Verbums προσκαλέω in Mk 3,13 wie Mk 3,23 (150). Mk 3,35 bildet die Brücke zur Gegenwart des Lesers: Auch er kann durch das Tun des Willens Gottes zur Familie Jesu gehören (155). Mk 4,10 f. thematisiert weniger das Unverständnis der Jünger als vielmehr das Verständnis des Lesers, der mit den Jüngern in den Innenkreis um Jesus eintreten darf (160); Mk 4,13–20 will zum Weitermachen trotz des missionarischen Misserfolges ermutigen (163). »Was die Jünger über die Person Jesu lernen mussten, das hat die Gemeinde des Evangelisten hinsichtlich der Basileia zu begreifen: Misserfolg negiert nicht Gottes Zusage.« (174) Die Durchbrechung der Schweigegebote (1,45; 5,20; 7,36 f.) pointiert die Bedeutung der Rede von Jesus und ist ein indirekter Auftrag zur Verkündigung (177).
In Mk 13 versucht der Evangelist, die Gemeinde angesichts des jüdischen Krieges vor apokalyptischer Panik zu warnen und die schrecklichen Ereignisse von der Enderwartung abzusetzen (206), wiewohl das Ende nahe ist (210). Auch hier »verwendet der Evangelist das Stilmittel der Ironie, um durch die Darstellung des Gegensatzes gleichzeitig die Verbindung zwischen einer nach mensch­-lichem Empfinden gottfernen Realität und Gottes Plänen sichtbar zu machen« (214). Den »Greuel der Verwüstung« deutet R. auf die Zerstörung des Tempels (206; die maskuline Partizipform wird nicht explizit bedacht).
Der dritte Hauptteil »Das Mk im liturgischen Gebrauch christlicher Gemeinden« rekapituliert den Ertrag der exegetischen Überlegungen: Mk »wollte den Glaubensweg seiner christlichen Adressaten […] befördern […], die Leser in der Nachfolge Jesu und im Bekenntnis stärken« (230). »Als intendierte Form der Lektüre des Mk kommt deshalb am ehesten eine Gesamtlesung oder zumindest eine Lectio continua in Zeitabständen in Frage. Den ganzen Weg Jesu mitgehen und daran die ganze Botschaft des Evangeliums erfahren – diese Aufgabe sollte die Lektüre des Mk erfüllen« (232). Die Perikopen-Neuordnung im Vaticanum II hat das Verdienst der ausweitenden Auswahl der biblischen Texte, wodurch der Reichtum der Bibel deutlicher wird (253–259); als Grenzen dieser Neuordnung be­nennt R. die Kürze der Perikopen gerade im Vergleich zum jüdischen Gottesdienst und ihre unzulässige Isolierung vom Kontext (wichtig vor allem die Beobachtung S. 269 f. zu Mk 6,7–13: Liest man den Text ohne den umgeben-den Kontext, wird Mission einseitig als Erfolg dargestellt) und die Kürzungen innerhalb einer Perikope selbst: Die Verkürzung von Mk 5,21–43 auf die Rahmenerzählung Mk 5,21–24.35–43 schwächt das katechetische Potenzial der Glaubensthematik ab; der Verzicht auf Mk 16,8 beseitigt die Spannung von Herrlichkeit und Leiden und den adressatenorientierten Ruf zur Verkündigung. Die Einheitsübersetzung hat den Sprachstil des Markusevangeliums in schriftliche Sprache hinein geglättet, damit aber den Erzählfluss verlangsamt (271 f.). Verdienstvoll ist die Besprechung der Markuspassion von J. S. Bach.
Das Buch ist sehr konzentriert geschrieben, man spürt den Ernst des Verstehenwollens, und die ausgewählten Passagen sind insgesamt meist zutreffend analysiert. Der Gewinn der Arbeit liegt weniger in einer theoretischen Grundierung (vgl. das unkommentierte Changieren zwischen »Hörern«, 40, und »Lesern«, 78); auch der Schlussteil verbleibt ebenfalls auf der Ebene des praktischen Ratschlages (z. B. 259–266, u. a. zur Zurüstung von Lektoren; 276–284 u. a. für die Gestaltung von Wort-Gottes-Feiern) – wichtig wäre m. E. gerade, die Grundspannung von Leiden und Herrlichkeit heute zu durchdenken. Der exegetische Teil ist in manchen Einzelbeobachtungen bereichernd, der praktische Teil ist anregend gerade in der Kritik an der Perikopenordnung. Für wen wird dieses Buch von Nutzen sein? Am ehesten für den Praktiker, der sich selbst zum Nachdenken über das Markusevangelium in der Gemeindepastoral anregen lässt. Es bleibt zu hoffen, dass sich konfessionsübergreifend viele Menschen finden, die im Sinne von R. dieses ernste Bemühen um das Verstehen biblischer Texte in die Gemeindearbeit einbringen wollen.