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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

930–931

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Longenecker, Bruce W.

Titel/Untertitel:

Remember the Poor. Paul, Poverty, and the Greco-Roman World.

Verlag:

Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2010. XI, 380 S. 22,6 x 15,0 cm. Kart. US$ 25,00. ISBN 978-0-8028-6373-7.

Rezensent:

Robert Vorholt

Bruce W. Longenecker geht in seiner 2010 erschienenen Aufsatzsammlung »Remember the Poor. Paul, Poverty and the Greco-Roman World« der Frage nach, ob und inwiefern sich die Kirche des Anfangs durch die antike Armutsproblematik herausfordern ließ und sozialkritische Fragen bei der Ausformulierung frühchristlicher Theologie eine wichtige Rolle spielten. In der Vergangenheit konzentrierte sich die exegetische Forschung oftmals auf die Darstellung ökonomischer Entwürfe des Frühchristentums, ohne da­bei der paulinischen Theologie besonderes Augenmerk zu schenken, weil man fälschlicherweise annahm, dass Paulus sich solcher Fragestellungen weithin entzöge. In bewusster Entgegensetzung versucht L. nun aufzuzeigen, dass die Sorge um die Armen integraler Bestandteil des durch den Apostel verkündeten Evangeliums und zugleich gängige Praxis innerhalb der von ihm gegründeten christlichen Stadtgemeinden war. Die Rekonstruktion des Sozialgefüges der antiken griechisch-römischen Gesellschaft bildet den Hintergrund, vor dem L. die wirtschaftlichen und historischen Im­plikationen einerseits, die exegetischen und theologischen Dimensionen andererseits ausleuchten möchte. L. ist also im Ganzen daran gelegen, eine neue Perspektive zu eröffnen, die erhellen kann, dass und inwiefern sich gerade die paulinische Hinwendung zu den Armen historisch und theologisch bahnbrechend auswirkte.
Einer umfänglichen Klarstellung dient das einleitende Kapitel. Dem vermeintlichen, nicht selten unterstellten Desinteresse des Apostels an sozialen Problemfeldern wird die These entgegengesetzt, Paulus habe die Zuwendung zu den Würdelosen und Entrechteten als Herzmitte der von ihm in die Welt getragenen Botschaft verstanden.
L.s begründende und seinen Leserinnen und Lesern zugleich neue Horizonte erschließende Argumentation, die die Grundstruktur des Buches vorgibt, erfolgt in zwei sich anschließenden großen Schritten:
Zunächst beleuchtet er die Armutsthematik zur Zeit des Apostels (Kapitel 2–5), um die historischen, soziologischen und theologischen Kontexte ermessen zu können, vor denen die paulinische Aufnahme des Themas erfolgt. Das bereits in der Antike begeg­-nende Phänomen verarmter Existenz – davon scheint L. überzeugt zu sein – fällt nicht einfach vom Himmel. Die geschichtswissenschaftlichen Ausführungen belegen vielmehr, dass es als die fatale Konsequenz wirtschaftlicher Systeme erklärt werden kann, deren Funktionalität nicht zuletzt durch die Habgier elitärer Kreise bestimmt zu sein schien. Allerdings skizziert L. die antike Gesellschaft nicht nur negativ. Er zeigt stattdessen auf, dass die Sorge um Hilfsbedürftige und Notleidende Widerhall fand in gesellschaftlich organisierten karitativen Initiativen, aber auch im theologischen und kulturellen Rahmen des Frühjudentums.
Vor diesem Hintergrund möchte L. in seinem zweiten Hauptteil (Kapitel 6–13) den exegetischen Nachweis erbringen, dass sozialkaritatives Engagement auch für Paulus und seine Missionsbewegung theologisches Thema und ethisches Programm zugleich war. In einem ersten Schritt zeichnet er dazu die Einbindung des Apostels in den judenchristlichen Kontext seiner Zeit nach. Karitatives Engagement habe für die Kirche des Anfangs einen hohen normativen Stellenwert gehabt, der nicht nur durch die Schriften und Traditionen Israels grundgelegt worden sei, sondern vor allem durch die (ihnen entsprechende) Praxis Jesu. Was für die frühen Christen als Ganze anzunehmen sei, müsse aber für Paulus im Besonderen gelten. Der Vergleich jesuanischer und paulinischer Themen lasse markante inhaltliche Übereinstimmungen erkennen. Paulus habe also bei der Formulierung seiner Theologie durchweg Maß genommen an der Lehre Jesu selbst. Dass Paulus dabei ausgerechnet die Zuwendung Jesu zu den Armen und Entrechteten ausgeblendet haben sollte, hält L. für ausgeschlossen. Entsprechend kann er nach einem ersten Schnelldurchgang durch das paulinische Schrifttum und die Apostelgeschichte resümieren, dass das Phänomen sozialer Härte bei Paulus zwar nicht explizit und ausführlich, aber immer wieder und dann theologisch fundiert reflektiert und besprochen wird. Am deutlichsten zeichne sich dies in Gal 2,10 ab.
Die sich anschließenden exegetischen Beobachtungen kreisen darum um diese Verweisstelle. L. unternimmt es zunächst, den Be­deutungshorizont des Verses aus der zeitgenössischen und patris­tischen Auslegungsgeschichte zu eruieren, um schließlich fest­-zuhalten, dass Gal 2,10 seiner Ansicht nach in einem umfassend normativen Sinn als Programmwort zur Sorge um Arme und Bedürftige verstanden werden darf. Insbesondere aus dem theologischen Kontext Gal 2,1–10 gehe hervor, dass karitatives Engagement nicht bloß kirchliche Sozialpolitik sei, sondern seinen tie­-feren Sinn finde als äußerer Erweis der im Glauben gewonnenen Einsicht, dass das In-Christus-Sein der Getauften reines Gnadengeschehen sei. Wo Christen praktische und konkrete Nächstenliebe walten lassen, zeugen sie von der größeren Gnade Gottes, die ihnen selbst zuteil wurde und die sie nun ihrerseits antreibt zu Werken der Liebe. So befinden sie sich zentral in der Nachfolge Jesu und bewegen sich zugleich auf der Ebene der Verheißungen Israels.
L.s These wird schließlich abgesichert durch einen umfassenden, mehrere Kapitel übergreifenden Blick auf das Sozialgefüge der paulinischen Gemeinden. Er unterfüttert zugleich das Fazit, das L. am Ende seines Buches zieht: Paulus habe die Armutsthematik stets vor Augen gestanden. Wenn er sie in seinen Briefen auch nicht explizit entfaltet habe, so werde dennoch deutlich, dass der Apostel die Sorge um Bedürftige als ein praktisches, aber auch theolo­gisches Charakteristikum der Nachfolge Jesu aufgefasst habe. Als solche habe sie die Praxis der paulinischen Gemeinden bestimmt. Zwar könne der paulinische Missionsraum darin nicht grundlegend von anderen christlichen und auch jüdischen Kommunitäten unterschieden werden, wohl aber sei im Vergleich zur paganen Gesellschaft ein deutliches Kontrastprogramm entwickelt worden. Paulus und die Christen des Anfangs hätten es schließlich verstanden, die karitative Hinwendung zu den Armen als Glaubenszeugnis für jenen Gott zu verdeutlichen, der die Menschen liebt, dessen Liebe sich in Kreuz und Auferweckung Jesu vollgültig manifestiert und die Glaubenden nunmehr ihrerseits zu einer Praxis der Liebe animiert und befreit.
»Remember the Poor« ist eine exegetisch fein gearbeitete, me­thodisch flexible, zugleich informative Monographie, die nicht nur vorsichtige Einblicke in das Leben der frühchristlichen Ge­meinden gewährt, sondern zugleich wohltuende Eindrücke jener lebendigen Verquickung von alltäglicher Praxis und theologischer Vergewisserung vermittelt, die die Christen des Anfangs so sehr auszeichnete.