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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

917–919

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schüssler Fiorenza, Elisabeth, and Kent Harold Richards[Eds.]

Titel/Untertitel:

Transforming Graduate Biblical Education. Ethos and Discipline.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2010. VIII, 399 S. 22,8 x 15,2 cm = Global Perspectives on Biblical Scholarship, 10. Kart. US$ 49,95. ISBN 978-1-58983-504-7.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Wie sollen bibelwissenschaftliche Forschung und Lehre auf die Faktoren von Globalisierung und Demokratisierung so reagieren, dass die akademische Welt die sozialen, politischen, ökonomischen Realitäten und Veränderungen der Gesellschaft nicht nur adäquat und zeitgemäß abbildet, sondern in Fortschreibung etwa der befreiungstheologischen Konzepte (»Biblical study should be good for […] criticizing capitalism, imperialism, fundamentalism, and pa­triarchy«, 151) auch mit gestaltet und prägt (s. auch 2)? Die vorliegende Anthologie, die dieser sozial- wie wissenschaftspolitischen, teils auch: wissenschafts strategischen Diskussion verpflichtet ist, weil sie deren Brennpunkt in der »doctoral education« sieht, geht auf eine Reihe von Vorträgen zurück, die zwischen 2003 und 2007 in verschiedenen Seminaren beim annual meeting und beim international meeting der Society of Biblical Literature (SBL) vorgetragen wurden. Die Rezensentin erlaubt sich im Folgenden, anstelle einer Inhaltsübersicht über den Band und seine Beiträge (online: www.sbl-site.org/publications/default.aspx) einige der hier diskutierten Überlegungen kurz aufzunehmen und kritisch zu diskutieren.
Die Beiträge setzen voraus, dass Biblical Studies in einer globalisierten Welt einerseits eine lingua franca sind, andererseits aber kontextbezogen und kontextgebunden sein müssen. Diese para­-doxe Spannung zu bearbeiten, also das Verhältnis von Globalisierung und Kontextualisierung der Bibelauslegung bewusst zu machen und zu diskutieren, steht im Zentrum dieses Bandes, der aber – aus europäischer Sicht – eine starke US-amerikanische Perspektivierung hat. Auch wenn sich Multi-Kulturalität zur »hy­bridity« umdeuten lässt (E. M. Wainwright, »From ›Mono‹- to ›Multi‹-Culture: Reflections on a Journey«, 19–33: 22 f.), geht es hier um weit mehr als um terminologische oder methodische Fragen: Die Herausgeberin selbst erwartet einen Transformationsprozess der bi­belwissenschaftlichen Disziplinen, in welchem deren »kolonia­-lis­tisches Erbe« zugunsten eines Ethos aufgegeben wird, bei dem sich die Perspektive vom »Euro-American to a critical global one« verändert (15 f.). Das freilich hat weitreichende Folgen: Zu konstatieren, dass ›meanings‹ nicht statisch sind, sondern eher »fluid because of other determining factors, such as the social location of the interpreter« ( Y. Tan, »Social Location: Disease and/or Dis-cover[y]«, 47–58: 53; s. auch M. J. Melanchthon, »Graduate Biblical Studies in India«, 119–136: 135 f.), gehört zum hermeneutischen Allgemeinwissen. Daraus jedoch die Forderung abzuleiten, dass in die Biblical Studies der »multireligious cultural background« des Interpreten/der Interpretin aktiv einfließen soll (K. S. Lee, »Biblical Study in Korea in the Twenty-First Century«, 137–152: 149), impliziert im nächsten Schritt weit mehr: Hier steht faktisch die Re-Evaluierung der Bedeutung abendländischer Textwelten als solcher auf dem Plan. Denn wenn etwa in der asiatischen Welt die westlich geprägte(n) Interpretationskultur(en) nicht übernommen und fortgeführt werden, sondern im Sinne einer »cross-textual interpretation« die »plurality of scripture and the social complexity of Asia as a ›text‹« ( A. C. C. Lee, »Cross-Textual Biblical Studies in Multiscriptural Contexts«, 35–45: 44 f.) in Textdeutungen mit aufgenommen und auf dieser Basis internationale Wirkung auf die Bibelwissenschaften entfaltet werden soll, so wird diese Entwick-lung auch Folgen für die europäischen und amerikanischen Aus­-legungstraditionen haben (müssen). Wer das fordert, dem sollte bewusst sein, dass hier die Gewichte ungleich verteilt sind: Während sich in der westlichen academia hermeneutische Diskurse wissenschaftsgeschichtlich unterscheiden und ordnen lassen, be­steht die Schwierigkeit, mit der Biblical Studies andernorts zu kämpfen haben, in der Bewältigung der Beschleunigung: Hier nämlich kommt es zu einem gleichsam zeitgleichen Zusammentreffen von forschungsgeschichtlich gewachsenen Fragestellungen und postmoderner Dekonstruktion und Pluralität, die die Frage nach dem eigenen kulturellen Erbe vielleicht auch beliebig werden lässt. Ob und wie sich aus diesem Zusammenprall der alten mit der modernen Welt Genuines unüberstürzt entwickeln lässt und ob überhaupt ge­wünscht wird, damit auf die Biblical Studies in der sog. westlichen Welt in der Form zurückzuwirken, dass diese nicht einfach ihrer immer noch dominanten Stellung entledigt, sondern auch wissenschaftlich inspiriert und ihrerseits fortentwickelt werden, bleibt unklar. Wenn es nicht zu einer Regionalisierung bibelwissenschaftlicher Forschung, sondern zwischen den Wissenschaftskulturen zu einer konstruktiven Zusammenarbeit auf Au­genhöhe kommen soll, so müssen diese hermeneutischen Fragen gemeinschaftlich und in selbstkritischer Betrachtung der je eigenen Ge­schichte bearbeitet werden, und zwar jenseits von kolonialen oder post-kolonialen Verdächtigungen, die – auch in diesem Band – gerne im Raum stehen (s. etwa die Rede vom »cultural genocide«, 70). Die Autorinnen und Autoren scheinen eher noch für diese Augenhöhe kämpfen zu wollen, als dass sie sie als selbstverständlich erachten und voraussetzen könnten. Hier wäre künftig vielleicht doch mehr Vertrauen in die gegenseitige Arbeit angebracht – die »Hermeneutik des Verdachts« deckt also nicht nur Verborgenes auf, sondern wirkt unter Umständen hemmend nach.
Dennoch kann der SBL-Band nicht genug dafür gelobt werden, dass er die Vielzahl von Fragestellungen, die die Globalisierung mit sich bringt, aufgreift und in einer Weise diskutiert, die vom Willen nach sozial- und wissenschaftspolitischer Analyse und dem Mut zu schonungsloser Selbstkritik der Bibelwissenschaften und Bibelwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gekennzeichnet ist. Ob die eine oder andere Lagebeschreibung und Kontextanalyse immer ausreichend ausbalanciert ist oder ob sie nicht teils eher in postmodernem Aktionismus mündet, der zuweilen seine eigene Innovationskraft überschätzt, bleibt zu prüfen – so etwa im Blick auf die hier geforderte Kanonkritik ( A. Smith, »Taking Spaces Seriously: The Politics of Space and the Future of Western Biblical Studies«, 59–92, bes. 85 f.), die längst Teil der historisch-kritischen Bibelforschung ist und kürzlich auch unter dem Vorzeichen der Dekonstruktion exegetisch-hermeneutisch problematisiert wurde. Auch würde die Diskussion insgesamt durch mehr hermeneutische, im Sinne von methodologischer Sensibilität gewinnen: So könnte es hilfreich sein, besser von multicontextual readings als von hermeneutics (31) zu sprechen, um der inflationären und d. h. auch beliebigen Verwendung des Hermeneutik-Begriffes diesseits und jenseits der akademischen Welt Einhalt zu gebieten.
Trotzdem lädt dieser Band zu einer seit Langem überfälligen Diskussion über wissenschaftliche Kontext- und Standortbestimmungen ein, die in der deutschsprachigen Exegese trotz einiger Anstöße, wie die Herausgeberin in ihrem einleitenden Beitrag (1–16, hier: 2) skizziert, bisher nicht konsequent geführt wird. Warum aber fällt akademische Selbstkritik so schwer? In Anlehnung an E. Schüssler Fiorenzas Hinweis darauf, dass Biblical Studies als eine »scientific discipline« (in ihren Anfängen) weithin ein »professional elite male ethos« (7) adaptiert hätten, kommt die Vermutung auf, dass Reflexion und Restrukturierung von Forschung und Lehre zwangsläufig auch gender-bezogene Aspekte haben. Dass diese nicht nur sozial-politisch relevant sind, sondern sich sachlich prägend auf den Forschungsbetrieb ausgewirkt haben und immer noch auswirken, kritisiert Schüssler Fiorenza – vielleicht zu Recht – mit Hinweis darauf, dass »doctoral education« (immer noch) der Ausbildung eines »positivist elite masculine ethos« (9) verpflichtet sei. Ausgehend von einem »Ethos«-Begriff als »space where customs and characters are formed« (8), plädiert Schüssler Fiorenza in der Konsequenz dafür, in Dissertationen von einer Perpetuierung des »scientist-positivist approach« (9) wegzukommen und die Forschung auf die Beschreibung von »constructive ideological functions« antiker, so auch biblischer Texte, und auf die der Rezeptionsgeschichte inhärenten »ideological justifications« (ebd.) zu lenken. Die Kritik an einem positivistischen Wissenschaftsverständnis teile nicht nur ich, ebenso wie das Plädoyer für eine (ideologie-)kri­tische Analyse rezeptionsgeschichtlicher Vorgänge; Re­zeptionsgeschichte ist ja inzwischen bereits ein in den Bibelwissenschaften sehr umfänglich bearbeitetes Gebiet, das dementsprechend Forschungsräume schafft. Unklar bleibt mir aber, ob gegenwärtig (noch) positivistische Tendenzen gender-basiert sind oder vielmehr beide Geschlechter gleichermaßen betreffen. So meine ich, dass die Gender-Determinierung des Wissenschaftsbetriebes eher sozial be­dingt ist: Sie sollte daher aus Sicht der social network theory be­trachtet werden. Diese Sicht könnte zu einer Analyse führen, wie weit academic networks diesseits und jenseits des gender-Diskurses dazu beitragen, ein gender-basiertes Ethos sowohl wissenschaftsstrategisch als auch fachbezogen zu legitimieren und damit auch erstarrte Forschungs-Strukturen zu prolongieren. Falls dies der Fall sein sollte, so verpassten – und hier stimme ich wieder zu – die exegetischen Disziplinen den nötigen Prozess einer Selbst-Erneuerung, in welchem nach dem Prinzip der »collaboration rather than competition« (E. Schüssler Fiorenza, »Rethinking the Educational Practices of Biblical Doctoral Studies«, 373–393: 378) zu­sammengearbeitet werden könnte.
All diese Fragen sind dringend notwendig. Sie fallen in den Be­reich internationaler Forschungs- und Lehrevaluation. Sich dagegen derartig kritischen und durchaus unangenehmen Selbstreflexionen zu verweigern, birgt letztlich die Gefahr der Provinzialisierung der Exegese – nicht zuletzt dies deutet der Band an (vgl. G. Gelardini, »A Glace at Europe and in Particular Switzerland«, 153–170: 170) und regt in der Tat zum Weiter-Denken an, auch darüber, wo die Grenzen des hier vertretenen Projekts liegen (müssen): So ist etwa die direktiv formulierte Forderung nach einer »complete reconception of academic disciplinary culture« (378), die u. a. auf fundamentalistische Tendenzen und heterogene Gesellschaftsstrukturen zu antworten sucht, letztlich (immer noch) besser im US-amerikanischen als im europäischen Kontext zu verstehen. Die Spannung von Globalisierung und Kontextbindung also bleibt, sogar innerhalb der western world.