Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2012

Spalte:

914–916

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kellenberger, Edgar

Titel/Untertitel:

Der Schutz der Einfältigen. Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Bibel und in weiteren Quellen.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2011. 183 S. m. Abb. 22,5 x 15,0 cm. Kart. EUR 24,60. ISBN 978-3-290-17604-4.

Rezensent:

Beat Weber

Der Themenbereich menschlicher Behinderung (disability) hat in jüngster Zeit vermehrt Interesse (auch) in bibelwissenschaftlicher und theologischer Sicht erfahren. Das Phänomen der geistigen Behinderung fand allerdings kaum Beachtung. Die Bibel ist bezüglich dieser (modernen!) Fragestellung auch nicht ergiebig. Das hat auch mit unterschiedlicher Wahrnehmung und Erfassung bedürftiger Menschen zu tun. Gleichwohl befragt Edgar Kellenberger die Bibel hartnäckig nach dem Vorkommen geistig behinderter Menschen sowie nach geschilderten und geforderten Verhaltensweisen ihnen gegenüber. Aufgrund der diesbezüglich spärlichen Aussagen ist der Einbezug weiterer Quellen (namentlich der altorientalischen Nachbarkulturen) nötig und hilfreich. Das Buch hat seinen Sitz im Leben im Umstand, dass K., Schweizer Pfarrer (im Ruhestand) und Bibelwissenschaftler (Alttestamentler), einen geistig behinderten (Adoptiv-) Sohn hat. – Das Interesse aus persönlicher Betroffenheit teilt auch der Rezensent, Vater einer mehrfach [auch geistig] behinderten Tochter und seinerseits Pfarrer und Bibelwissenschaftler. – Interesse und Beharrlichkeit machen sich insofern bezahlt, als K. einem Gold­-wäscher vergleichbar die wenigen Goldsplitter heraussiebt. Auch eher beiläufige Erwähnungen und verborgene Einsichten betreffend (geis­tiger) Behinderung werden so aufgespürt.
Das Buch hat nach Vorwort und Einführung fünf Teile. »Geistige Behinderungen in der Bibel« (hinzuzufügen wäre: »… und im Alten Orient«) lautet der erste. Als Einstiegspunkt und Kronzeuge bietet sich ein Fragment aus dem 7. Jh. v. Chr. des bis ins 2. Jt. zu­rückgehenden Gilgamesch-Epos an (Tafel 10, Zeilen 270–278). Dort wird unter dem akkadischen Begriff lillu »Laller« ein offensichtlich geistig behinderter Mensch erwähnt. Dieser wird einerseits als be­schränkt (»Idiot«) und abhängig von Hilfeleistungen (Nahrungs­gabe) geschildert und andererseits als Bedürftiger der Obhut des Königs anbefohlen. Ausgehend vom Umstand, dass lillu für die Narrheit eines Normalbegabten wie zugleich für einen geistig Be­hinderten stehen kann, erwägt K. ein doppelsinniges Verständnis auch für biblische Aussagen (vor allem Spr). Im Blick ist hebr. kesîl »Dummkopf, Narr, Tor«, z. B. in Spr 17,21.25 (ähnlich griech. ἀπαίδευτος »Ungeschulter, Schulungsunfähiger«, Sir 22,3). Auch im Be­deutungsumfang von hebr. petî »Einfältiger, Bedürftiger«, den Gott in seine Obhut nimmt (Ps 116,6, dazu Buchtitel), dürfte das Phänomen geistiger Behinderung mit eingeschlossen sein. Relativ knapp wird das Neue Testament behandelt. Bei Jesus in den Heilungsgeschichten sind Körperkontakte wesentlich. Formen von geistiger Behinderung lassen sich bei »Taubstummen« und mög­-licherweise bei den Kindern, die Jesus berührt/segnet (Mk 10,13–16 par), annehmen oder jedenfalls vermuten.
Nach der Spurensuche von geistiger Behinderung in der Bibel hat das nächste Kapitel gleichsam eine reziproke Ausrichtung: Es wird nach Erfahrungen von Behinderten mit der Bibel gefragt. Exemplarisch wird an Rolf N. und Bernhard K. aufgezeigt, wie sich das eine Mal Bibelwahrnehmung (Exodus) in einem Bild ausdrückt (= Titelbild des Buches), das andere Mal in gottesdienstlicher Beteiligung (Liturgie), namentlich am »Unser Vater«-Gebet. K. formuliert aus diesen Erfahrungen Rückschlüsse, Konsequenzen und Anregungen. So können Erfahrungen und Einsichten geistig be­hinderter Menschen uns neue Sichtweisen auf die Bibel hin öffnen.
Die Ausführungen unter der Überschrift »Mögliche Schicksale von Menschen mit geistiger Behinderung« machen den größten Umfang in diesem Band aus. Da die Quellen für verlässliche Aussagen auch diesbezüglich spärlich fließen, werden körperliche Behinderungen mit einbezogen und Rückschlüsse aus anderen Kulturen und Zeiten gewagt. In 18 Teilkapiteln werden u. a. erörtert: Kin­-dersterblichkeit und Überlebensmöglichkeiten; Geburtsauffälligkeiten; Kindestötung; Aussetzung Neugeborener; Bettelexistenz; Geringschätzung, Verspottung und Instrumentalisierung; Prostitution; Schenkung (an Tempel); Aufnahme zur Pflege; Integration (Sippe, Glaubensgemeinschaft). Schwer geistig Behinderte werden schon im frühen Kinderalter gestorben sein. Rückschlüsse auf (körperliche) Behinderungen ergeben einzelne archäologische Funde. Von schweren Geburten (mit Behinderung als möglicher Ursache), Kindesgebrechen oder -tod sprechen biblische Texte und Namensgebungen. Kindestötung wird in der Bibel nicht thematisiert (vgl. aber Ex 1,15–22; Mt 2,16–18); in Mesopotamien und später in Griechenland und Rom kommt sie vor. Juden und Christen sprechen sich aufgrund ihrer Religion dezidiert dagegen aus. Ebenso lehnen Mohammed bzw. der Koran diese vehement ab. Kindesaussetzungen aus der Not heraus sind da und dort erwähnt – die bekannteste ist Mose am Ufer des Nils (Ex 2,1–10). Dass Behinderte mit Betteln ihr Überleben sichern, davon zeugen Bibeltexte, vor allem aus dem Neuen Testament (Heilungsgeschichten). Einige der alttestament­lichen Gebote oder Verbote wehren Missbräuchen gegenüber Be­hinderten (u. a. Dtn 27,18; Lev 19,13 f., vgl. Sir 8,4). Von »Schenkungen« von Menschen (Kindern) an Heiligtümer – ein Brauch, der sich später an christliche Klöster fortsetzt – weiß auch die Bibel zu be­richten (etwa 1Sam 1,11.21–28).
Mit »Lehren für heute« wird das Erarbeitete bilanziert und für die Gegenwart ausgewertet. Das zutage getretene Bild ist vielfältig. Die (biblischen) Texte gaukeln keine heile Welt vor. Zweifelsfrei von Menschen mit geistiger Behinderung sprechen in der Bibel nur sehr wenige Stellen. Die Texte unterscheiden allerdings kaum (wie wir) zwischen verschiedenen Arten von körperlicher, seelischer oder geistiger Behinderung (sowie weiteren Formen von Menschen mit Mangel/Bedürftigkeit). Daher vermutet K. auch hinter weiteren Aussagen Formen von »geistiger Behinderung« (die Bezeichnung ist ohnehin unpräzis). Die landläufige Vergötzung der Ge­sundheit führt in fatale Nähe zu Euthanasiegedanken. »Wer leichthin nachredet, dass ›die Gesundheit das höchste Gut‹ sei, nimmt in Kauf, dass Menschen abgewertet werden, welche dieser problematischen Sicht von Gesundheit nicht entsprechen« (154 f.). Bei allen, sonst großen Verschiedenheiten zwischen Judentum, Christentum und Islam sind sich die drei monotheistischen Religionen darin einig, dass Gott Erschaffer und Erhalter des Lebens ist. Sie verbieten daher die Tötung neugeborenen Lebens ebenso wie diejenige von behinderten und alten/gebrechlichen Menschen. Der von der Aufklärung propagierte und heute so beliebte Begriff der »Menschenwürde« (die Bibel redet von »Gottebenbildlichkeit«) weist auch problematische Seiten auf, welche die neuste Diskussionslage rund um sog. »würdiges Leben/Sterben« mitbestimmen. In Jesus ist Gott selber bedürftig geworden, und die Bedürftigkeit des Menschen zieht sich durch die Bibel hindurch (in den Seligpreisungen werden Bedürftige sogar glückselig gepriesen). Das Le­ben ist ein Geschenk, auch das Leben mit geistiger Behinderung – wie Eltern solcher Kinder und Behinderte selbst bezeugen. Gleichwohl fragt K. nicht ohne – angesichts der neusten Tendenzen be­rechtigte – Sorge: »Wie wird es in Zukunft sein, wenn die Stimme der Reli­-gionen weiterhin systematisch geschwächt und deren Einfluss zurückgedrängt wird? Wem nützt dieser Trend? Und wer riskiert deswegen unter die Räder zu geraten?« Gut ist es, mit Ps 116,6 zu wissen: »Der HERR behütet die geistig Behinderten« (Übersetzung K.s).
Eine Würdigung fällt nicht leicht. Die Quellenlage ist und bleibt dürftig. Was K. mit großer Akribie und Hartnäckigkeit aufgrund seiner biblischen wie altorientalischen Kenntnisse gleichwohl alles zusammengetragen hat, verdient Anerkennung und Dankbarkeit. Dies gilt umso mehr, als die Thematik – jedenfalls die der geistigen Behinderung – bisher kaum bearbeitet wurde. Dass Argumentation und Folgerungen manchmal »kühn« und oft nicht mit der wünschbaren Gewissheit daherkommen, wird man konstatieren müssen. Sie sind der Quellenlage ebenso anzulasten wie wohl auch die etwas großen »Sprünge« zwischen Texten, Welten und Themen. Die neutestamentlichen Heilungen/Exorzismen durch Jesus (und die Apostel), insbesondere die Fälle von Epilepsie (z. B. Mk 9,14–29), hätten größeren Raum verdient. Die eschatologische Wiederherstellung (vgl. etwa Offb 22,1–5 – für mich als Vater einer schwer behinderten Tochter ein wichtiger Text!) findet keine Erwähnung. Insgesamt: ein hilfreiches Buch, breiter Aufnahme wert! Auch Medizinern, Pflegepersonal, Heilpädagoginnen sowie nicht zuletzt Gesundheitsökonomen und Politikern möchte man dessen Ertrag samt den Folgerungen für den Umgang mit (geistig) Behinderten heute besonders ans Herz legen.