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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

912–914

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kashouh, Hikmat

Titel/Untertitel:

The Arabic Versions of the Gospels. The Manuscripts and their Families.

Verlag:

Berlin/Boston: de Gruyter 2012. XIV, 761 S. m. Abb. u. Tab. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Neutestamentlichen Textforschung, 42. Geb. EUR 269,00. ISBN 978-3-11-022858-8.

Rezensent:

Predrag Bukovec

Der aus dem Libanon stammende baptistische Pastor Hikmat Kashouh legt mit dieser Dissertation die Ergebnisse seiner textkritischen Forschung an den Evangelien in arabischer Sprache vor. Er hat sich bereits in den letzten Jahren mit einigen Aufsätzen zum selben Thema geäußert und verfolgt seinen Arbeitsschwerpunkt auch in seiner Mitarbeit am Codex Sinaiticus-Projekt.
Wie aus dem Titel der Monographie schon ersichtlich wird, geht es K. um die Katalogisierung der Handschriften und um ihre textkritische Evaluation (1). Als Ziel setzt er sich, einen »preliminary guide to these manuscripts« (3) zu bieten, der auch die komplexe Entwicklung der verschiedenen Handschriftenfamilien für den wissenschaftlichen Gebrauch nachzeichnet. Ein weiteres Interesse, das ihn bewegt, ist die Entstehung der arabischen Evangelienübersetzung bzw. ihre Datierung (35).
Die Aufnahme des Buches in eine Reihe für neutestamentliche Exegese darf nicht den Eindruck erwecken, als sei es allein für diese theologische Teildisziplin von Belang: Wahrscheinlich ist die Ar­beit noch von weitaus größerer Relevanz für die Beschäftigung mit dem Christlichen Orient und der nahöstlichen Kirchengeschichte, wie der Überblick über K.s namhafte Vorgänger zeigt (9–37), die fast ausnahmslos Orientalisten waren. Nach diesem forschungsgeschichtlichen Überblick erstellt K. ein Verzeichnis der insgesamt 210 von ihm konsultierten Handschriften mitsamt Fundort, Signatur und anderen erforderlichen Informationen (46–77). Für seine Recherchen hat er über 20 Einrichtungen in Europa und dem Na­hen Osten besucht. Auch wenn damit noch keine Vollständigkeit erreicht wird, so ist doch ein repräsentatives Corpus die Grundlage seiner nun folgenden Analysen.
K. gruppiert die Handschriften alphabetisch in nahezu zwei Dutzend Familien und diese Familien wiederum nach den griechischen (82–122) und syrischen (123–204) Vorlagen sowie der Alexandrinischen Vulgata (205–257); die zweite Hälfte der Familien weist koptische, lateinische und gemischte Vorlagen auf (258–287) bzw. ist nur fragmentarisch erhalten geblieben (288–303). Seine wichtigs­ten vom bisherigen Konsens abweichenden Ergebnisse sind hierbei zum einen, dass die Familie B in K.s Augen besonders alt zu sein scheint, weil sie keine uns heute bekannte Vorlage besitzt, aber eine gewisse Nähe sowohl zur Vetus Syra als auch Vetus Latina aufzuweisen scheint (111 f.). Zum anderen widerspricht er Guidi darin, dass die Alexandrinische Vulgata eine koptische Vorlage besessen habe, weil s. E. vielleicht eher eine syrische infrage komme (256 f.).
In einem letzten Schritt führt K. die interfamilialen Beziehungen vor, indem er anhand von Textpassagen aus jeder Familie die Interdependenzen aufklärt (304–325). Hierbei bedient er sich phylogenetischer Software und erstellt damit Stemmata, aus denen sieben »tribes« zum Vorschein kommen (316 f.) und s. E. die Familie H auf das 6. Jh. datiert werden muss (319). Diese These ist durchaus von Brisanz, denn sie bedeutet, »that the Gospel existed in Arabic among the Arab Christian community no later than the seventh century, which suggests that the Gospel was first translated into Arabic by the sixth century« (ebd.). K. geht also davon aus, dass die arabischen Evangelien noch vor dem Islam entstanden seien, und stellt sich damit gegen die bisherige Mehrheitsauffassung. Deswegen möchte ich mit den kritischen Anmerkungen auch an dieser Stelle einsetzen:
K.s Datierung basiert vorrangig auf einem Differenzargument, da die »Familie« H – sie besteht nur aus einer einzigen Handschrift! – trotz Pešiṭtâ-Vorlage eigentümliche Lesarten inkludiert und die Handschrift ein relativ hohes Alter (8. Jh.) aufweist. Die Übertragung der textkritischen Differenz auf einen vor-islamischen Archetypus ist aber nicht ohne weitere, externe Konvergenzkriterien zwingend, gerade bei einem Unikat. Auch gehen die Lokalisierungsversuche (168–171.320–323) deswegen über Spekulation nicht hinaus, weil sie seine Datierung voraussetzen und damit zirkulär werden. Dieser problematische Aspekt korreliert mit dem ausdrück­lichen Ausschluss von anderen Primärquellen als dem Tetraevangelium (9), etwa Lektionaren oder dem Diatessaron, was zwar auf grund des Arbeitsumfanges sinnvoll erscheinen mag, aber im Gegenzug die Wahrscheinlichkeit der hier vorgelegten Thesen schwächt und eine große Anzahl von Textzeugen a priori ausschließt. Gerade weil K. viele Evangelienhandschriften mit litur­-gischem Sitz im Leben untersucht, wäre die Einbeziehung auch anderer liturgischer Bücher sinnvoll; stattdessen lässt er die dort enthaltenen rubrikalen Einfügungen außer Acht, als wenn sie irrelevant wären. Ebenso könnte dadurch bei vielen »Familien« der Um­stand, dass nur ein Zeuge existiert, gegebenenfalls revidiert werden. Inkonsistent nimmt sich in diesem Zusammenhang aus, dass umgekehrt die Familie O (280–287) aufgenommen wird, ob­wohl sie eher der biblischen Nachdichtung zuzurechnen ist.
Die zweite Hälfte der Monographie legt das Material für die vorhergehenden Analysen offen und besteht aus einer Bibliographie (333–351) und vier Appendizes: Er führt die Testpassagen und den Variantenapparat auf (352–464), sichert die textuelle Evidenz in den nicht-arabischen Evangelienübersetzungen (465–544), behandelt sodann die Alexandrinische Vulgata gesondert (545–693) und liefert die Stemmata (694–758). Der Band wird mit einem – vielleicht zu kurzen – Index (759–761) abgeschlossen.