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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

910–912

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Raiser, Konrad

Titel/Untertitel:

Religion – Macht – Politik. Auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Weltordnung.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2010. 344 S. 21,0 x 13,4 cm. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-87476-609-8.

Rezensent:

Wolf Krötke

Konrad Raiser – von 1993 bis 2003 Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen – hat sich eine Aufgabe von großen Ausmaßen gestellt. Er möchte eine »zukunftsfähige Weltordnung« suchen und die Herausforderungen, die dazu nötigen, kritisch re­flektieren (12). Jene Herausforderungen bündeln sich in dem Stichwort »Globalisierung«. R. skizziert sie in einem ersten Kapitel (vgl. 15–62). Dabei zeigt sich folgendes Dilemma:
Das Modell des souveränen Nationalstaates, der Träger des politischen Handelns ist, kann im weltweiten Maßstab »nicht länger als Grundmodell politischer Ordnung betrachtet und verteidigt werden« (41). Denn die Globalisierung erfordert einerseits ein »politisches Handeln über die Grenzen des eigenen Staatsgebietes hinaus«. Andererseits wird der Einfluss von Nationalstaaten auf das Weltgeschick durch die »Autorität und Handlungsmacht […] des freien Spiels der Marktkräfte« begrenzt (vgl. 40). Wiewohl Nationalstaaten nicht grundsätzlich infrage zu stellen sind, ruht darum die Hoffnung für eine »neue Weltordnung« auf der »weichen Macht« einer grenzüberschreitenden »Zivilgesellschaft« (vgl. 44). Sie befördert »netzwerkartige, horizontale Politikkoordination« (51). R.s Frage ist, was »die Religionsgemeinschaften als Hüter der moralischen und ethischen Traditionen der Menschheit« zu solcher Weltordnung beitragen können (57).
Bevor darauf geantwortet wird, bieten vier Kapitel eine Um­schau im Problemfeld von Politik und Religion. Zunächst wird die sog. »Säkularisierungstheorie« relativiert (vgl. 63–110). Deren Kernthese, dass die Säkularisierung der Politik »Religion« in den privaten Raum zurückdränge, kann nicht bestätigt werden. Außerhalb Europas wird »Religion … als integraler Bestandteil des öffentlichen Lebens der Gesellschaft verstanden« (105). Aber auch in Europa ist eine »Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum zu beobachten« (vgl. 63–71). »Religionsgemeinschaften und religiöse Bewegungen versuchen, sich im globalen Wettbewerb um Macht und politischen Einfluss zu positionieren« (109).
Politik kann demnach nicht mehr ausschließlich als Sache des Staates verstanden werden (vgl. 111–150). Politisches Handeln vollzieht sich vielmehr in einem »öffentlichen Raum«, zu dem neben dem Staat »die öffentliche politische Gesellschaft« und die »Zivilgesellschaft« gehören (113). Religion hat auf alle drei Dimensionen Einfluss; allerdings in den verschiedenen Weltgegenden auf unterschiedliche Weise. Das wird an Beispielen aus Europa, den USA und den »postkolonialen Staaten« illustriert (vgl. 117–141). Dieser Rundblick lehrt: »Der ›öffentliche Raum‹ muss in seinem Eigenrecht geschützt werden« (149). Er ist als Ort für die »öffentliche Kommunikation« unter der Bedingung der Religionsfreiheit zu verstehen.
Mit der Religionsfreiheit hapert es aber beim Islam. R. schiebt deshalb ein Kapitel »Religion und Politik im Islam« ein (vgl. 151–204). Angesichts des Einflusses, den die Religion hier auf die Politik hat, muss gehofft werden, dass sich die Reformkräfte im Islam durchsetzen möchten. Von ihnen wird erwartet, dass sie eine politische Ordnung befördern, die das »Bewusstsein islamischer Identität« bewahrt, »ohne mit den … Menschenrechte(n) in Konflikt zu geraten« (197). Eine Übertragung der »westlichen Ausprägungen des Grundsatzes der Trennung von Religion und Politik« auf islamische Staaten erscheint jedoch als problematisch, wenn nicht als ausgeschlossen.
Religiös begründeten Widerstand gegen das säkulare Verständnis des Staates gibt es aber auch in anderen Religionen. Das zeigt sich am weltweiten Erstarken des Fundamentalismus (vgl. 205–248). R. schildert am Beispiel des amerikanischen Fundamentalismus, wie hier die Wendung gegen Modernisierungsprozesse zur politischen Forderung nach Wiederherstellung einer religiös sanktionierten Ordnung werden kann (vgl. 229). Vergleichbare Phänomene gibt es in allen Weltreligionen. Die Frage ist, wie angesichts dessen eine Ordnung der globalisierten Welt gefunden werden kann, die nicht nur am Selbstverständnis der »westlichen Moderne« orientiert ist, sondern auch der »Macht der Religion« Rechnung trägt.
Das letzte Kapitel (249–304) reflektiert diese Frage. Es läuft auf die Forderung hinaus, dass die »Beziehung von Politik und Religion in Anerkennung ihrer unterschiedlichen Machtpotenziale neu ausgehandelt werden« muss (303). Der kommunikativen, symbolischen Macht der Religionen muss ein »öffentlicher Raum« mit »Regeln« zur Verfügung stehen, in dem sie die Menschwürde, die nach Meinung von R. jedem Recht zugrunde liegt (276), politisch zur Geltung bringen können. Auf diese Weise vermögen die Religionen »Anwälte einer Kultur des Dialogs und des Friedens« zu werden (vgl. 284–301). Hans Küngs Projekt »Weltethos«, das die »Goldene Regel« als Grundmuster religiöser Übereinkunft profiliert, wird darum gelobt. Es gilt als Beispiel, wie die Religionen »im Dialog miteinander ihre Traditionen füreinander zu öffnen und das ihnen innewohnende Potenzial für den Aufbau einer Ordnung gemeinsamen, menschwürdigen Lebens zu aktivieren« vermögen (303).
R. versichert am Ende seines Buches, für das »Aushandeln« der »Machtpotenziale« von Politik und Religion könne es keine »allgemein gültigen, normativen Vorgaben geben« (303). Doch diese Versicherung offenbart zugleich das Problem seiner Überlegungen. Sie entwerfen ein Szenarium, ohne die Chancen seiner Realisierung auszuloten. Wie »Regeln« für die Kommunikation einer weltweiten »Zivilgesellschaft« geschaffen werden können und wer sie schafft und garantiert, wird nicht gefragt. Die Probleme der Globalisierung, von denen R. ausgeht, kommen am Ende nur noch in einem Anhang zur Sprache, in dem die »ökumenische Diskussion über politische Ethik« referiert wird (vgl. 305–332). Das ist unbefriedigend.
Man muss R. allerdings auch zugestehen, dass er sein Bemühen als »Suche« in einem Problemfeld globalen Ausmaßes und nicht als Lösung der Aufgaben, die sich in diesem Felde im Einzelnen stellen, verstanden wissen will. Die angemessene Frage an seine Vorstellungen von einer »neuen Weltordnung« ist darum, ob er sich dabei auf dem richtigen Wege befindet. Wenn er für eine »Ethik der Verantwortung« (258) eintritt, welche die Staaten der Erde verpflichtet, die Kooperation mit anderen Staaten zugunsten einer internationalen Rechtsordnung in ihr Selbstverständnis aufzunehmen, kann er sicherlich mit einem breiten Konsensus rechnen. Nicht weniger ist es wünschenswert, dass eine weltweit vernetzte »Zivilgesellschaft« – unterstützt von den Religionen – die Achtung der Menschenwürde bei allen politischen Entscheidungen zur Geltung bringt. Wie diese »Zivilgesellschaft« sich heute in Afghanistan und im Sudan, in Nordkorea und in China, bei den »arabischen Revolutionen« und an vielen anderen Orten auf der Erde darstellt, dürfte der Weg zu dem Idealzustand, den R. vor Augen hat, allerdings zu einer sehr, sehr langen Strecke werden.
R. will angesichts dessen keine Resignation aufkommen lassen. Er will die Erkenntnis einüben, dass eine »neue Weltordnung« un­erlässlich ist. Man versteht sein Buch am besten als Einladung an seine Leserinnen und Leser, sich selber an der Suche nach einer solchen Ordnung engagiert zu beteiligen.