Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2012

Spalte:

903–904

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bauschke, Martin

Titel/Untertitel:

Die Goldene Regel. Staunen – Verstehen – Handeln.

Verlag:

Berlin: EB-Verlag 2010. 254 S. m. Abb. 23,0 x 14,0 cm. Geb. EUR 22,80. ISBN 978-3-86893-030-6.

Rezensent:

Ulrich Dehn

Der Goldenen Regel, von Martin Bauschke als »moralisches Weltkulturerbe« angepriesen, wird hier nach fast 50 Jahren (1962) wieder eine Monographie gewidmet, die mit großer Gründlichkeit, die aus anderen Büchern B.s schon bekannt ist, Vorkommen, As­pekte, Konsequenzen und Bedeutungen der Goldenen Regel sowie ihre Ab­grenzung zu anderen Regeln wie der Talionsformel oder der »Platin-Regel« abschreitet und auswertet. B. weist die Goldene Regel in ihrer (volkstümlichen) negativen Formulierung, in der positiven Variante in der Bergpredigt und der Sache nach an allen möglichen Orten auf: zunächst im politischen Bereich und in internationalen Erklärungen, dann in den Religionen und schließlich in der Philosophie, um sich zuletzt in allgemeinen ethischen Überlegungen der Reichweite der (erstmals im 17. Jh. so genannten) Goldenen Regel zu widmen. Die Reichweite schätzt er groß ein, wie der fast predigtartige Schluss des engagiert geschriebenen Buchs nahelegt.
Folgende Merkmale schreibt er der Goldenen Regel zu: Säkularität, Selbstevidenz, Reflexivität, Reziprozität und Empathie, Formalität und Universalität, die zusammen mit der Definition, dass es sich um ein »essentielles Ethos«, nämlich um »eine Kurzfassung und Zusammenfassung dessen, wie Menschen sich benehmen bzw. nicht benehmen sollten« (15f.), handele, die Bezeichnung »Goldene Regel« rechtfertigten. Sie komme prominent vor in zwei wichtigen Reden Obamas (Nationales Gebetsfrühstück und Kairoer Rede), in einer Rundfunkansprache J. F. Kennedys am 11.6.1963, in einer Rede Roman Herzogs von 1995, in der dieser sich auch auf das Vorkommen der Goldenen Regel in vielen säkularen und religiösen Traditionen bezieht (22), sowie in Reden Horst Köhlers. Auch der Hinweis auf die Schilder in Zug-Toiletten der Deutschen Bahn darf nicht fehlen (30).
Die zahlreichen Belege aus religiösen Traditionen fördern laut B. zutage, dass die Goldene Regel im Bereich der monotheistischen Religionen im Judentum, d.h. in der Hebräischen Bibel, erstmalig belegt ist. Damit, wie auch mit Konfuzius als wichtigem Gewährsmann, entstammt sie einer Zeit, die B. in Rezeption des Jaspersschen Begriffs als »Achsenzeit« (ca. 800–200 v. Chr.) bezeichnet. Neben ihrer Verwendung und Hochschätzung im indischen Schrifttum (Pali-Kanon, Mahayana-Sutren, Mahabharata u.a.) ging sie in die Regula Benedicti ein, war Augustinus wie auch Luther sehr wichtig, ist im Islam sowohl im Koran als auch in den Hadithen, in den Prophetenlegenden und in späteren Abhandlungen nachweisbar. Auch in den »Verborgenen Worten« Baha’u’llahs ist die Goldene Regel zu finden.
Den Aufweis der Goldenen Regel in der Philosophiegeschichte lässt B. bei den »Sieben Weisen« und vor ca. 2600 Jahren beginnen und enteignet damit Konfuzius des Urheberrechtes, dem und dessen Tradition jedoch das Verdienst zukommt, das Prinzip der »wechselseitigen Rücksichtnahme« (shu) zur Pointe der gesamten Ethik gemacht zu haben (65). Kant habe der Goldenen Regel den »kategorischen Imperativ« gegenübergestellt, für den er mehrere Formulierungen anbot. Beiden gemeinsam seien ihr formaler Cha­rakter und der als moralische Prinzipien (75). Neuere Entwürfe werden diskutiert: Richard Mervyn Hare, Wilhelm Kamlah, Hans Jonas, Amitai Etzioni und schließlich Marcus George Singer, der ihr das Prädikat »fundamentale ethische Wahrheit« (Encyclopedia of Philosophy) zusprach (84). Die Gegenüberstellung zur Vergeltungsregel lässt B. betonen, dass es sich um eine aktive, initiative und kreative Regel handele, nicht um eine reaktive Regel in Beantwortung von selbst Erfahrenem. Mit derselben Verve grenzt er sie gegen das Inversionsprinzip ab, d. h. gegen die Regel »Behandle andere so, wie sie von dir behandelt werden möchten«. Diese Maxime sei nicht gegen Missbrauch und gegen das Syndrom der völligen Selbstaufgabe gefeit. Das Existieren negativer und positiver Formulierungen der Goldenen Regel habe zu antijüdischer Polemik geführt, die im 19. Jh. mit einer Kontrastierung Jesus – Hillel (Franz Delitzsch) arbeitete. In der Theologie des 20. Jh.s wurde gerne das Liebesgebot gegen die Goldene Regel ausgespielt und die Überlegenheit des Liebesgebots gegenüber dem formalen Aspekt der Gerechtigkeit hervorgehoben (Bultmann, Tillich). Die Goldene Regel errang Prominenz im interreligiösen Dialog und wurde zum am häufigsten zitierten ethischen Prinzip auf dem ersten »Parlament der Religionen der Welt« 1893 in Chicago. Leonard Swidler machte die Goldene Regel zum 5. Punkt seines »Dialog Dekalogs« für den interreligiösen Dialog.
Das Buch schließt mit einem emphatischen Appell, das zwi­schenmenschliche Vernetzungspotenzial der Goldenen Regel zu würdigen und in eine »existentielle Achsenzeit« einzutreten, in­dem wir »versuchen, gemäß der Goldenen Regel zu leben« (220). Die zusammenfassende Materialsichtung und Analyse sowie die um­sichtige Abgrenzung gegenüber rivalisierenden ethischen Formeln stellen ein wichtiges Verdienst dieses umfassend recherchierten, flüssig lesbaren und mit viel Sendungsbewusstsein geschriebenen Buchs dar. Der sachliche wissenschaftliche Duktus wird immer wieder geprägt und unterbrochen durch B.s Vision einer Welt, die nach der Goldenen Regel lebt. Damit bleibt B. sich treu – auch ein früheres Buch von ihm (»Der Spiegel des Propheten«) schließt mit einer Vision.