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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

879–880

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Friedrich, Norbert, Kaminsky, Uwe, u. Roland Löffler [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Social Dimension of Christian Missions in the Middle East. Historical Studies of the 19th and 20th Centuries.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2010. 252 S. 23,6 x 16,8 cm = Missionsgeschichtliches Archiv, 16. Kart. EUR 46,00. ISBN 978-3-515-09656-0.

Rezensent:

Martin Lückhoff

Der Band umfasst Beiträge, die im März 2006 im Rahmen einer Konferenz in Düsseldorf-Kaiserswerth präsentiert wurden. Anders als die Kennzeichnung »Mittlerer Osten« im Titel vermuten lässt, beschränken sich die englischsprachigen Beiträge fast ausschließlich auf das Heilige Land. Das mag an den bisherigen Arbeitsschwerpunkten der Herausgeber liegen. Während sich Friedrich und Kaminsky vorwiegend mit Forschungsbeiträgen zur Diakoniegeschichte in Deutschland profiliert haben, veröffentlichte Löffler eine Reihe von Abhandlungen zur Geschichte Palästinas im ausgehenden 19. und frühen 20. Jh.
Mit dem europäischen Protestantismus, dem römisch-katholischen Wirken sowie einzelnen Studien zum Verhältnis des bundesrepublikanischen Protestantismus zum Staat Israel setzen die Herausgeber drei thematische Schwerpunkte. Ein übergreifendes Namenverzeichnis sowie Angaben zu den Autoren schließen den Band ab, Sach- oder Ortsregister sind nicht erstellt worden.
Vom Umfang her am stärksten erscheint der Beitrag des europäischen Protestantismus und der englischen Missionsgesellschaften zur Entwicklung Palästinas. Wie stark protestantisches Wirken im pädagogischen und diakonischen Bereich die Entwicklung Palästinas im 19. Jh. geprägt hat, ist seit den in den 1980er Jahren erschienen Arbeiten Alex Carmels sowie zahlreichen sich anschließenden Forschungsbeiträgen bekannt. Dabei ist unstrittig, dass der schweizerische und süddeutsche Beitrag wie auch das Interesse des Hauses Hohenzollern maßgeblich zur Erschließung der Region beitrugen. Die Basler Christentumsgesellschaft und das Brüderhaus St. Chrischona, Missionsgesellschaften und chiliastische Grup­pierungen wie die Londoner Judenmissionsgesellschaft oder die amerikanische Familie Spafford transferierten Finanzmittel und sicherten dauerhafte personelle Präsenz. Organisationen publizierten Berichte und betrieben eine international beachtete Öffentlichkeitsarbeit, die das wirtschaftliche Überleben der Aktivitäten im Heiligen Land und die Präsenz ihrer Arbeit in der europäischen Öffentlichkeit sicherstellte.
Einen zweiten Schwerpunkt nehmen die römisch-katholischen Aktivitäten ein. Diese werden exemplarisch an dem französischen, deutschen und österreichischen Wirken dargestellt. Reizvoll ist die Widersprüchlichkeit einzelner Beiträge in der Darstellung der rö­misch-katholischen Aktivitäten. Während Dominique Trimbur in Frankreich die dominierende römisch-katholische Macht sieht, deren Engagement im Spannungsfeld der deutsch-französischen Konflikte des 19. und frühen 20. Jh.s zu interpretieren ist, legt Barbara Haider-Wilson überzeugend die Forschungsergebnisse zum nachhaltigen österreichischen Engagement dar. Ähnliches gilt für den Beitrag von Haim Goren, der am Beispiel des »Vereins vom Heiligen Grabe« den Einfluss wissenschaftlich-archäologischer, kirchen­politischer und ökonomischer Interessen auf die Palästina­arbeit darstellt. – Offen bleibt die Entscheidung, auf das Wirken der Mönchsorden allenfalls am Rande einzugehen. Dies überrascht, entwickelten doch die Franziskaner als »Wächter der Heiligen Stätten« im Rahmen der Pilgerbetreuung ein beachtliches Hospizwesen.
Die Beiträge stimmen in der These überein, dass die christliche Mission im Osmanischen Reich maßgeblich von außenpolitischen, konfessionellen und nationalstaatlichen Überlegungen der euro­-päischen Mächte bestimmt war. Entsprechend wirkten sich auch der deutsch-französische Konflikt oder außenpolitisch-imperiale Überlegungen Englands unmittelbar auf die Aktivitäten im Osmanischen Reich aus. Ökonomischen, innerosmanischen oder interreligösen Fragen kommt hingegen eine nachgeordnete Bedeutung zu.
Nicht thematisiert wird der Verzicht auf wichtige Aspekte, die man unter dem Buchtitel erwartet hätte und die einen festen Bestandteil der sozialen Dimension christlicher Mission im Nahen und Mittleren Osten darstellen.
So fehlen Hinweise auf die maßgebliche Arbeit der American Board (ABCFM), die in der Levante (besonders in Beirut und Alleppo) bis Mitte des 19. Jh.s eine Vorreiterrolle spielte. Gänzlich unerwähnt bleibt das armenische Engagement, das in Folge der Pogrome im Osmanischen Reich die Missionsgesellschaften als gravierende soziale Herausforderung erlebten. Ebenso unerwähnt bleibt der maßgebliche Beitrag russischer Gesellschaften, die sich zu­nächst verstärkt der griechisch-orthodoxen Kirche zuwandten. Er stellte sich in zahlreichen Klöstern wie auch dem Jerusalemer »Russian Compound« baulich eindrucksvoll dar. Überhaupt bleibt unverständlich, wieso der Beitrag der orthodoxen Kirchen, von Kopten, mit Rom unierten und den orientalischen Kirchen allenfalls marginale Beachtung findet. Geht man davon aus, dass ca. 90 % der Christen einer dieser Kirchen angehörte, ist die Entscheidung nicht nachzuvollziehen. Hinzu kommt ein reduziertes, funktionales Verständnis von Mission. Diese be­schränkt sich auf diakonisches und pädagogisches Handeln. Der in weiten Teilen des Osmanischen Reiches propagierte Proselytismus erfährt keine Beachtung.
Der Sammelband mit seinen historischen Studien bietet einen wichtigen Beitrag zur Kirchengeschichte des Heiligen Landes im 19. Jh. Die einzelnen Beiträge verdeutlichen den europäischen Einfluss auf die Entwicklung des Heiligen Landes und ermöglichen einen guten Einblick durch spezielle Fragestellungen und deren aktuellen Forschungsstand. Die gute Bestandsaufnahme ausgesuchter, zum Teil wenig rezipierter Forschungsergebnisse zeigt die Vielfalt nationaler, konfessioneller und religiöser Zugänge auf. Zugleich wird deutlich, dass die Forschung zur Christentumsgeschichte des Vorderen Orients noch zahlreiche Desiderate aufweist, die für weitere Forschung lohnenswert wären.
Wer sich einen Eindruck über den westlichen Beitrag zur Wie­derentdeckung des Heiligen Landes anhand exemplarischer Fragestellungen verschaffen will, dem sei der Band empfohlen.