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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

871–873

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rösch, Henriette

Titel/Untertitel:

Zwischen Markt und Mission. Funktionsprobleme und Anpassungsstrategien der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Verlag:

Würzburg: Ergon 2011. 380 S. 23,0 x 15,5 cm = Religion in der Gesellschaft, 30. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-89913-864-1.

Rezensent:

Eberhard Blanke

Mit der Dissertation der Sozialwissenschaftlerin Henriette Rösch liegt eine Publikation vor, die sich begrifflich und methodisch der Systemtheorie nach Niklas Luhmann bedient – mit durchweg erstaunlichen und tragfähigen Erkenntnissen. R. ist derzeit Fachreferentin für Politikwissenschaft an der Universitätsbibliothek Leipzig. Das Buch ist die überarbeitete Fassung ihrer 2010 abgeschlossenen Dissertation an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig.
Die Untersuchung ist in fünf Kapitel unterteilt und gibt damit zugleich Auskunft über ihren inneren Aufbau: Kapitel 1 beschreibt die Bezugsprobleme des religiösen Systems in modernen Gesellschaften. »Die Fragestellung dieser Arbeit zielt auf Aussagen über Möglichkeitsbedingungen von Religionen in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften.« (17) Dies geschieht methodisch durch eine funktionale Analytik. Der Gegenstand der Beschreibungen sind die Kommunikationen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (17). Die Bezugsprobleme der Religion in der funktional differenzierten Gesellschaft erörtert R. mit den Be­griffen Indifferenz und Konkurrenz, deren religiöse Selbstbeschreibung im Begriff der Säkularisierung auftritt. Kapitel 2 beschreibt die Methodologie der Arbeit. Die Beobachtungen der EKD-Kommunikationen nehmen primäre Texte sowie die daraus rekonstruierten Diskurse in den Blick. In Kapitel 3 beleuchtet R. die Problembeschreibungen der EKD im Blick auf die Bezugspro­bleme Indifferenz und Konkurrenz. Dies ge­schieht methodisch an­hand einer rekonstruktiven Analytik. Demnach beschreiben die Kommunikationen der EKD die religiöse Problemlage mithilfe eines Reform-, eines Islam- und eines Demokratiedis­kurses. Kapitel 4 untersucht die Problemlösungen der EKD im Hinblick auf die genannten Diskurse und bringt sie auf die Begriffe Essentialisierung, Profilierung und ›Legierung von Christentum und Demokratie‹. Kapitel 5 fasst den Gang der Arbeit resümierend zusammen.
Wenn man den Dreischritt von Problembezug, Problembeschreibung und Problemlösung religiöser Kommunikation innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft festhält, sind die vielfältigen und detaillierten Bezüge, die R. herstellt, schlüssig zu überblicken. Die für die EKD relevanten Bezugsprobleme, die sich aus der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ergeben, treten als »duplizierte Kontingenz« (18) von Indifferenz und Konkurrenz auf. Das Problem der Indifferenz fragt nach der Bedeutung von Religion überhaupt, das Problem der Konkurrenz nach der Bedeutung gerade dieser Religion. Kontingenz wird als Begrenzung von Möglichkeiten definiert (32).
Die Kommunikationen der EKD können sich nicht länger als historisch oder institutionell notwendig darstellen, sondern kommen kontingent neben anderen Kommunikationen zu stehen. In Reaktion darauf beschreiben die EKD-Kommunikationen die gesellschaftliche Situation mit dem Begriff der Säkularisierung, der die Rückstufung der Religion auf ein gesellschaftliches Funktionssystem neben anderen bezeichnet. »Der Kern der Säkularisierungstheorie liegt demnach in der strukturellen Schwächung der Religion, indem sie zum Gegenstand kontingenter Entscheidungen wird.« (32) Säkularisierung aber tritt der Religion als Indifferenz und Konkurrenz gegenüber (18). Der Begriff der Indifferenz bezieht sich auf die notwendige Indifferenz anderer Funktionssysteme in Bezug auf das Religionssystem. Dies macht R. im Vergleich mit dem politischen System exemplarisch deutlich. Das Problem der Indifferenz behandelt der EKD-Reformdiskurs (17), innerhalb dessen sich eine Essentialisierung bzw. Fundamentalisierung kirchlicher Kommunikationen herauskristallisiert. Der Begriff der Konkurrenz bezieht sich dagegen auf religionsinterne Konkurrenzen, im Besonderen etwa auf die zwischen dem Christentum und dem Islam bestehenden Programmdifferenzen und die daraus resultierenden Plausibilitätsunterschiede.
Im Ergebnis beantwortet R. ihre Ausgangsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Religion in einer funktional differenzierten Gesellschaft in dreifacher Hinsicht. Zum einen ergibt sich, dass die EKD anhand ihrer Kommunikationen als Hybrid beobachtbar wird. »In der Gleichzeitigkeit von Inklusions- und Exklusionscharakter, von Zivilreligion und Glaubensgemeinschaft, von Institution und Organisation und von Weltanpassung und Weltdistanz wird die EKD als hoch komplexes hybrides Gebilde sichtbar. Die komplexe Ausgangslage von Indifferenz und Konkurrenz, von Kirchenaustritten einerseits und vergleichsweise stabiler gesellschaftlicher Akzeptanz und Anerkennung andererseits sowie die einer diffusen ›Wiederkehr der Religion‹ und der konkreten Konkurrenz durch den Islam führt zu komplexen Lösungen. Komplexe Lösungen meint hier Gleichzeitigkeit zum Teil kontradiktorischer Problemlösungsformen und Selbstentwürfe und die Steuerung dieser Gleichzeitigkeit.« (298) Die Diskurse leisten demnach genau das nicht, was sie zu erreichen beabsichtigen. Sie entziehen sich der funktionalen Analyse und damit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, deren Folge sie sind.
Zum anderen fokussiert R. auf Strukturprobleme von Religion in der funktional differenzierten Gesellschaft. »Bei der von Seiten der Religion als schwierig wahrgenommenen Situation der Gegenwart handelt es sich um ein Struktur- und nicht um ein Konjunkturproblem.« (316) Die Strukturprobleme können aber nicht da­durch gelöst werden, dass versucht wird, den gesellschaftlich vorgegebenen Veränderungen durch semantisch orientierte Reform-, Religions- oder Demokratiediskurse zu begegnen. »Die beobachteten Formen der Problembearbeitungen können diese strukturellen Inkompatibilitäten nicht auflösen, sondern stellen punktuelle Anpassungsversuche an die Bedingungen dar.« (316) Auch ist bislang nicht abzusehen, wie strukturelle Problemlösungsvarianten für die Kirche aussehen könnten. Eine Mindestanforderung wäre, dass – am Beispiel der EKD – die Kirche spezifisch strukturverändernde Prozesse zu initiieren beginnt, die der gesellschaftlichen Veränderung angemessen gegenübertreten (313). Daraus ergibt sich schließlich die Frage, wie strukturelle Anpassungsleistungen als Selbststeuerung möglich sein können. »Nicht nur die Strukturbedingungen der Umwelt sind nicht durch die Religion steuerbar, sondern auch der Anpassungsprozess der Religion an die Bedingungen funktionaler Differenzierung entzieht sich der unmittelbaren Steuerbarkeit.« (317)
Der Ausblick auf die Zukunft der Religion in Zeiten funktionaler Differenzierung und der dadurch hervorgerufenen ›duplizierten Kontingenz‹ von Indifferenz und Konkurrenz für die Religion scheint nach R. am ehesten mit der Formel »Evolution statt Entscheidung« (315) möglich zu sein. Demnach entzieht sich die religiöse oder kirchliche Selbststeuerung »einer Kausalität im Sinne von Entscheidungen – Durchführung – Problemlösung« (318). Das macht Planungsstrategien erforderlich, die mit weiterer Evolution rechnen.
Die Arbeit von R. überzeugt zum einen durch ihre methodologische Stringenz, zum anderen ist sie im Hinblick auf die Beschreibung sowohl der gesellschaftlichen Problembezüge als auch der Beschreibung der kirchlichen Problembeschreibungen und Problemlösungskonstellationen als tragfähig einzuschätzen. Zudem leistet der direkte Bezug auf die Kommunikationen der EKD die erforderliche empirische Validität.
Allerdings ließen sich die von R. kritisch-analytisch dargestellten Diskurse der EKD auch in genau entgegengesetzter Weise lesen, nämlich als eine durchaus haltbare Variante operativer Schließung und der damit gegebenen autonomen Systembildung kirchlicher Kommunikationen in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Insgesamt ist die Lektüre dieser Arbeit als uneingeschränkt gewinnbringend und als ein Muss für all diejenigen anzusehen, die am Weg der EKD interessiert oder beteiligt sind.