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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

868–870

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kellner, Dirk

Titel/Untertitel:

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie. Die Bedeutung der Charismenlehre für die Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeaufbau.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2011. 557 S. m. Abb. 22,5 x 15,0 cm. Kart. EUR 48,60. ISBN 978-3-290-17581-8.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Rudolf Bohren entwarf 1975 unter dem Titel »Dass Gott schön werde« Praktische Theologie als theologische Ästhetik. Darin bedauerte er, dass Moritz Lauterburgs Arbeit von 1898, »Der Begriff des Charisma und seine Bedeutung für die praktische Theologie«, kaum Beachtung fand. Obwohl das ästhetische Paradigma heute in der Praktischen Theologie sehr verbreitet ist, blieb das Defizit hinsichtlich einer Rezeption der Charismenlehre bestehen. Diesem Mangel begegnet die von P. Zimmerling begutachtete Leipziger Dissertation von Dirk Kellner in überzeugender Weise.
Nach einem Einleitungskapitel zeigt K. an Beispielen von den Apostolischen Vätern bis zur altprotestantischen Orthodoxie, wie die Charismenlehre klerikalisiert und marginalisiert wurde. Im­pulse zur Neuentdeckung der Charismenlehre im 19. Jh. werden bei Schleiermacher, C. I. Nitzsch, Wichern, Blumhardt und in einer problematisch wirksamen Weise bei Sohm und Max Weber gezeigt. Die Wiedergewinnung ihrer theologischen Relevanz im 20. Jh. skizziert K. an den Beispielen von E. Schlink (Bekennende Kirche), E. Käsemann, G. Eichholz (Exegese), H. Küng, G. Hasenhüttl, J. Moltmann (Systematik) und P. Zimmerling (Praktische Theologie).
Im dritten Kapitel beschreibt K. die Rezeption der Charismenlehre in der Oikodomik anhand der Konzepte von W. Krusche, Ch. Bäumler, R. Kunz-Herzog, F. und Ch. A. Schwarz sowie Ch. Möller. Auch die Arbeiten von M. Herbst werden oft herangezogen. Der Begriff »Gemeindeaufbau« wird nicht problematisiert. Die Literaturauswahl erfolgt nach dem Kriterium, ob und wie der Charismabegriff für den jeweiligen Entwurf wesentlich ist. Bisher hat sich kein theologisch geklärter und konsensfähiger Charismabegriff etablieren können, aber die verschiedenen Konzepte stimmen darin überein, dass die Entdeckung und Förderung der Charismen und damit die Praxis des Allgemeinen Priestertums als eine we­sentliche Aufgabe des Gemeindeaufbaus gelten. Dabei geht es immer darum, die Balance von Charisma und Institution zu wahren oder zu gewinnen.
Die Rezeption der Charismenlehre in der Pastoraltheologie erläutert K. im vierten Kapitel an den sehr unterschiedlichen Beispielen von C. I. Nitzsch, A. F. C. Vilmar, D. Bonhoeffer, R. Leuenberger, W. Trillhaas, M. Josuttis und I. Karle. Im 20. Jh. wurde eine konstruktive Aufnahme der Charismenlehre in die Pastoraltheologie einerseits durch die Nachwirkung des amts- und institutionskritischen Charismabegriffs bei R. Sohm und M. Weber und andererseits durch den Einfluss der Dialektischen Theologie mit ihrer Annahme einer prinzipiellen menschlichen Unfähigkeit behindert. Seit der empirischen Wende der Praktischen Theologie im letzten Drittel des 20. Jh.s tritt die Bedeutung der biblischen Tradition und mit ihr die der Charismenlehre zurück.
Da Letztere weithin unter einer inhaltlichen Präzisionsschwäche leidet, bietet das fünfte Kapitel eine biblisch-theologische Re­konstruktion der Charismenlehre in praktisch-theologischer Ab­sicht. Verbunden mit der Leib-Christi-Metapher wird Charisma bei Paulus zum pneumatologisch-ekklesiologischen Grundbegriff, den K. definiert als »das unverfügbare Ereignis der Gnade, das der dreieinige Gott durch den Heiligen Geist jedem Glaubenden in Freiheit und Treue individuell zuteilt, um ihn zum Dienst am Nächsten in Kirche und Welt zu befähigen und zu berufen«. Es handele sich dabei weder um einen habituellen Besitz noch um eine Begabung im psychologischen Sinn, aber es werden menschliche Gaben in Dienst genommen. Die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Tun klingt immer wieder an und wird in Anlehnung an Bohrens Formel von der »theonomen Reziprozität« beantwortet. Ebenso zieht sich die Frage nach der Beziehung zwischen dem Priestertum aller Glaubenden und dem Pfarramt durch das Werk. Die Charismenlehre stellt die Amtsträger in die Gemeinschaft aller Glieder des Leibes Christi und macht ihnen die gemeinsame Abhängigkeit vom Geber aller Gaben be­wusst.
»Die oikodomische Relevanz der Charismenlehre« soll das sechste Kapitel erweisen. Das in der gegenwärtigen Praktischen Theologie weithin konsensfähige Leitmotiv der »Kommunikation des Evangeliums« (E. Lange) wird aufgenommen und kritisiert, dass in der vielfältigen Leitbildliteratur der charismatische Leib Christi als Verheißung und Angebot des Geistes wenig präsent ist. K. unterstützt die Vertreter des missionarischen Gemeindeaufbaus in ihrem Vorschlag, überschaubare Kleinstrukturen zu schaffen, die Luthers »dritter Weise« entsprechen. Er plädiert mit J. Zimmermann für die oikodomische Vermittlung von Individualität und Sozialität sowie für aktive Partizipation, die kasuelle Formen der Mitgliedschaft nicht zur Normalität erhebt. Mit Ch. Möller und B. Krause betont er die promissionale, ermutigende und entlastende und so auch pastoraltheologisch wichtige Perspektive der Oikodomik.
Im siebten Kapitel bedenkt K. die pastoraltheologische Relevanz der Charismenlehre ausgehend von der Frage nach der vocatio interna. Sie transzendiert das subjektive Bewusstsein in der vertikalen Dimension, indem sie die Abhängigkeit von Gott erfahren lässt, und in der horizontalen, indem sie den Einzelnen in die Gemeinde stellt, in der jede Person mit ihrem Charisma auch zum Dienst berufen ist. Der neuerdings fast inflationär gebrauchte Begriff der Kompetenz wird positiv aufgenommen und zugleich »relativiert«, nämlich zur Vielfalt der Gaben in der Gemeinde und zu ihrem Geber in Beziehung gesetzt. Damit wird der Gefahr von Überforderung begegnet und die Entwicklung eines realistischen pastoraltheologischen Leitbildes möglich, das nicht nur situationsgemäß sondern auch theologisch sachgemäß ist.
Das Schlusskapitel enthält neben einer knappen exempla­rischen Anwendung auf die Homiletik und Poimenik eine Zusam­menfassung der klar gegliederten und gut lesbaren Arbeit. Ihren wichtigsten Ertrag sehe ich darin, dass ein solider Beitrag für die in der gegenwärtigen Praktischen Theologie unterentwickelte biblische Grundlegung geleistet wird. Ob die Bezeichnung »Oikodomik« sich durchsetzt, sei dahingestellt. »Kybernetik« versteht K. als Teilgebiet der Oikodomik. Von der Charismenlehre her läge es nahe, sich auf die kybernéseis (1Kor 12,28) zu beziehen, wenn es um Fragen der Leitung und Gestaltung geht.
Wichtiger als diese terminologische Frage ist die Frage nach möglichen praktischen Konsequenzen, die sich aus dem eindrück­lich dargestellten praktisch-theologischen Potenzial ergeben. Von einer Doktorarbeit ist nicht mehr zu erwarten als das hier Geleis­tete. Doch wie entsteht aus der Beschreibung eines Grundbegriffs die entsprechende erfahrbare Realität? Wer die Linien in die Praxis ausziehen will, steht vor einem Berg schwieriger kybernetischer und kirchenrechtlicher Probleme. K. hat sicher wie einst Bohren Recht mit der Meinung, dass eine den pneumatologischen Aspekt vernachlässigende Theologie bei aller vermeintlichen Fortschrittlichkeit nur dem status quo dient. Wie aber kann der status quo auf biblischer Grundlage sachgemäß und situationsgemäß positiv verändert werden?
Es liegt im Wesen der Sache, dass darüber immer neu nachgedacht werden muss. Dafür bietet das vorliegende Buch wertvolle Grundlagen, die hoffentlich mehr Beachtung finden als einst die Arbeit von Lauterburg.