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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

865–866

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Weckelmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzers »Ehrfurcht vor dem Leben«. Eine theologische Analyse.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011. 267 S. 22,0 x 14,5 cm. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7887-2531-0.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

In seiner Dissertation (an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel) konzediert Thomas Weckelmann den kulturethischen Themen Albert Schweitzers zwar eine große Aktualität, aber zugleich den Mangel an verdienter Aufmerksamkeit. »Der Respekt vor seinen Taten überwiegt gegenüber der Wertschätzung seines denkerischen Œuvres« (12), was sich besonders auf seine Veröffentlichungen zur Kulturphilosophie und Ethik und weniger auf diejenigen zum Neuen Testament oder zur Musikgeschichte bezieht. Gerade für die Ethik gilt: »Vielfach wurde seine Formel von der Ehrfurcht vor dem Leben hochgeschätzt, die Begründung aber abgelehnt. Zu quer stehe sie zum ethischen Denken und außerhalb der Koordinaten des Üblichen.« (12)
Gegen Einschätzungen dieser Art möchte W. erstens darlegen, dass Schweitzers Denken gerade die Einseitigkeit herkömmlicher Vorstellungen überwindet und seine durch die Ethik wesentlich bestimmte Kulturkonzeption »auf einem ganzheitlichen Denken beruht« (15), das sich erst in einer genauen Analyse seiner Begriffe erschließt. Zweitens lässt sich Schweitzers nicht spezifisch religiös angelegtes Konzept von seinem Grundprinzip der Lebensbejahung sowohl von der Rechtfertigungs- als auch von der Schöpfungstheo­logie her rezipieren. Drittens gibt Schweitzers Ansatz für Theologie und Kirche eine spezifische Möglichkeit ihrer Beteiligung an der Kulturdiskussion.
Um dieses Programm durchzuführen, steckt W. im ersten Ka­-pitel (21–64) den theologiegeschichtlichen Rahmen ab, der für Schweitzers kulturphilosophisches Werk relevant ist. Dabei be­ginnt er mit Schleiermacher, streift den Kulturprotestantismus und stellt die unterschiedliche kulturphilosophische und theolo­gische Verarbeitung des Umbruchs nach dem Ersten Weltkrieg anhand früher Schriften von Karl Barth, Friedrich Gogarten und Reinhold Seeberg dar. Barth betont ein theologisches Kulturverständnis, Gogarten ist durch die weltnegative Untergangsstimmung der damaligen Zeit geprägt, was auch für Seeberg gilt und bereits 1923 zu dessen positiver Sicht des Nationalsozialismus führt.
Im zweiten Kapitel (65–115) führt W. in Schweitzers kulturphilosophische Schriften ein und systematisiert sie dann im dritten Kapitel (116–222), dem Hauptkapitel des Buches. Wesentlich für Schweitzer sind seine zeit- und sozialkritischen Vorstellungen vom Niedergang der Kultur und den gegensteuernden Überlegungen zu deren Regeneration. Textlich bezieht sich W. auf folgende Schriften Schweitzers: Wir Epigonen (1914–1918), die Uppsala-Vorlesungen (1920), die in Kultur und Ethik zusammengefassten Schriften Verfall und Wiederaufbau der Kultur, Kulturphilosophie I und Kultur und Ethik, Kulturphilosophie II (1923), die postum und Fragment gebliebene Kulturphilosophie III (1931–1945), die Gifford- und Hibbert-Lectures (1934–1935) sowie einige weitere Texte aus dem Nachlass. Auf dieser Textbasis kommt W. zu dem alle benannten Schriften einigenden Ergebnis, dass die Ehrfurcht vor dem Leben in dem denkend werdenden Willen zum Leben gründet, der nicht nur das eigene Leben bejaht, sondern von hier »zur Lebens- und Weltbejahung schlechthin führt« (114). Die Kulturethik erstreckt sich gleichermaßen auf die eigene Selbstvervollkommnung wie auf die Hingabe an das Leben anderer. Das im Willen zum Leben gründende Denken führt nach Schweitzer in die denknotwendige Mystik, wenn es das Individuum mit dem unendlichen Sein eint. Mystik ist für Schweitzer Religion in ihrer tiefsten Art.
Jetzt kann sich W. der schwierigen Aufgabe stellen, Schweitzers Kulturphilosophie zu systematisieren und deren Axiome zu eruieren. Die Systematisierung geschieht unter folgenden Sachverhalten: Begriff der Kultur – Denken – Kultur und Weltanschauung – Vernunftideale – Kultur und Ethik – Ehrfurcht vor dem Leben. Ohne hier auf die einzelnen Sachverhalte näher eingehen zu können, lässt sich Schweitzers Vorgehen aus dem Verständnis der Kultur als ethischer Verhaltensweise und der Diagnose ihres Verfalls erklären. Ihre Regeneration kann nur durch die Vergewisserung der Ehrfurcht vor dem Leben geschehen. In diesem Zusammenhang ist W.s Aussage wichtig, dass Schweitzers Ansatz nicht auf rein rationalem, sondern auf ganzheitlichem Denken beruht. Schweitzers Axiomatik arbeitet W. klar heraus, indem er vom Fundament der Einheit des Seins ausgeht. Der von hier aus ableitbare universelle Wille zum Leben zeigt sich auf der ersten Explikationsebene als Wille zum Leben, der dann von der Lebens- und Weltbejahung zum ethischen Verhalten führt und auf der vierten Explikationsebene die Ehrfurcht vor dem Leben begründet (205–208).
Für die Theologie stellt die Rezeption Schweitzers die Aufgabe, das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben im eigenen Denkrahmen zu begründen und einen eigenen Beitrag zur Kultur zu leisten, was die Aufgabe des vierten Kapitels (233–254) ist. W. konstatiert für die gegenwärtige Theologie ein eher defizitäres Bemühen um die Kultur. Die theologische Anknüpfung an Schweitzer nimmt er schöpfungstheologisch vor, indem er sich auf Schweitzers Begriff der Lebensbejahung stützt. Ferner übernimmt er Schweitzers Definition der Kultur als Ethik und sieht Gemeinsamkeiten zu ihm im Gebrauch einer ganzheitlichen Vernunft. Gegen Schweitzers Absolutsetzung der Ehrfurcht vor dem Leben, gemäß der das Individuum auf sich gestellt handeln muss, setzt W. die Leitung der Vernunft durch die Liebe und die »gemeinsam – von der Gemeinschaft der Glaubenden kollektiv – getragene Verantwortung« (254), die im Glauben an Jesus Christus wurzelt.
Diese Arbeit fußt auf einer sehr genauen Textanalyse und vermittelt damit das Anliegen Schweitzers gut und sachgerecht. Jedoch scheint mir das letzte Kapitel für die angesprochene Aufgabenstellung zu kurz geraten, gerade auch, was das Verhältnis von Theologie und Kultur betrifft. Ich verweise nur auf die umfangreichen theologischen Reflexionen der Kunst, die auf eine vielfältige und tiefe Auseinandersetzung mit der Kultur hinweisen. Ein Namenregister schließlich wäre dem Gebrauch des Buches sehr zugutegekommen.