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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

863–864

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Krebs, Angelika, Pfleiderer, Georg, u. Kurt Seelmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethik des gelebten Lebens. Basler Beiträge zu einer Ethik der Lebensführung.

Verlag:

Zürich: Pano (Theologischer Verlag Zürich) 2011. 334 S. 21,0 x 14,0 cm. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-290-22008-2.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Menschen leben nicht nur, sondern sie haben ihr Leben zu führen. Das ist Gabe und Aufgabe, Lust und Last zugleich. Insofern steckt im Titel dieses Buches nicht ein irritierender Pleonasmus, sondern ein entscheidender Hinweis darauf, dass unser Leben »gelebt« werden muss, wenn es gelingen soll. Darum brauchen wir Ethik als eine Theorie menschlich guter Lebensführung hinsichtlich ihrer Motive, Inhalte und Folgen, damit unser Leben zum Zuge und zum Wesentlichen kommt. Denn nichts Wesentliches ist selbstverständlich.
Der vorliegende Band stellt 14 Beiträge verschiedener Autorinnen und Autoren zusammen, die als Vorträge im Rahmen einer von der Herausgebergruppe organisierten interdisziplinären Ringvorlesung im Frühjahr 2009 an der Universität Basel gehalten worden sind. In Orientierung am Entwicklungsgang des menschlichen Lebens konzentrieren sich diese Beiträge aus philosophischer, theo­logischer, juristischer, pädagogischer und medizinischer Sicht auf markante aktuelle wie elementare Problemstellungen überwiegend individualethischer, um nicht zu sagen: existenzieller Art. Es geht also weder um bloße Ideengeschichte, Begriffsbestimmungen und Theorie- oder gar Metatheoriekonzeptionen, auch nicht um ein nur vorläufiges Bedenken von notwendigen Bedingungen der Möglichkeit moralischen Handelns in seiner kulturellen, ge­sellschaftlichen und natürlichen Bedingtheit. Vielmehr liegt der Fokus eindeutig und programmatisch auf der »angewandten« Ethik im Sinne eines teils auch beeindruckend persönlich gehaltenen alltagstauglichen Orientierungswissens für die Praxis zwischen Wissenschaft (scientia) und Weisheit (sapientia). Mögen dabei auch manche Positionen und Überlegungen nicht eben originell oder von argumentativer Durchsichtigkeit sein, so wirken die Beiträge doch allesamt sowohl dem Inhalt wie auch der Präsentationsform nach durchaus authentisch und anregend. Dabei wird immer wieder deutlich, dass Ethik und Moral nicht als unliebsame Einschränkung von Freiheitsspielräumen, sondern als Schutz des in jeder Hinsicht fragilen, unvollkommenen, aber zur Selbstbestim­mung in Beziehungen bestimmten menschlichen Lebens be­dacht werden – was durchaus einschließen kann, dass unter Um­ständen auch die Mit- und Umwelt vor den Menschen ge­schützt werden muss.
Der thematische Bogen spannt sich von Fragen des Lebensbeginns angesichts der Möglichkeiten heutiger Medizin und Biotechnik über Problemstellungen von Erziehung und Bildung, Geschlechtlichkeit und Liebe, Arbeit und Umwelt, Gesundheit und Krankheit, Behinderung und Lebenskunst, Lebensverlängerung und Lebensende bis hin zum Nachdenken über eine mögliche postmortale Existenz. Dabei kommen die Autorinnen und Autoren immer wieder auf die zentralen Fragen nach Gerechtigkeit, Menschenwürde und Anerkennung zu sprechen. Erfreulicherweise werden hier neben den in gegenwärtigen Diskursen gängigen Bereichsethiken auch Erziehung und Bildung als Themen der Ethik wahrgenommen. Denn wenn jede Ethik ein bestimmtes (strittiges) Verständnis von Menschsein und Personalität innerhalb eines umfassenderen religiösen oder philosophischen Wirklichkeitsverständnisses voraussetzt, dann gilt auch umgekehrt, dass immer dann, wenn es – wie eben bei Fragen der Erziehung und Bildung – um normative Menschenbilder geht, auch die Ethik zur Sprache kommen muss. Ebenso erfreulich ist, dass zur Erläuterung der Unverfügbarkeit von Personen auch wieder der lange Zeit vermiedene, von manchen aus theologischen Gründen sogar verpönte Begriff der »Seele« mit seinen ethischen Implikationen wieder zur Diskussion gestellt wird – gerade auch in kritischer Absicht gegenüber allzu reduktiven neurophysiologischen Thesen und »Erklärungen«.
Viele Beiträge dieses Bandes legen es nahe, Ethik in erster Linie als Wahrnehmungsschulung zu begreifen, die nicht einfach nur in Handlungstheorie aufgeht, sondern die noch zuvor Einstellungen, Sichtweisen und Haltungen (habitus) ausbilden möchte. Vor diesem Hintergrund fällt besonders der sehr konkrete Beitrag über »Lebenskunst« (Andreas Brenner) positiv auf, eine Kunst, die zuletzt auf den »Reichtum der kleinen Dinge« (201) rekurriert, der in religiöser Tradition »Segen« genannt und durchaus auch als Widerstand gegen die Dominanz der Ökonomie und ihre alles (quantifizierend) bestimmende Terminologie interpretiert werden kann. Philosophisch wie religiös motivierte Appelle an Bescheidenheit, Maßhalten und Verzicht (299) sind daher alles andere als spießbürgerlicher Ausdruck von Ressentiment oder Resignation, sondern ein vernünftiger Weg, allgegenwärtigen Sinnlosigkeitserfahrungen eine orientierende Perspektive entgegen zu setzen. Dazu leistet dieses durch und durch lesenswerte Buch einen wohltuenden Beitrag.