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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

854–857

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Thomä, Dieter, Henning, Christoph, u. Olivia Mitscherlich-Schönherr[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch.

Verlag:

Stuttgart/Weimar: Metzler 2011. VI, 466 S. m. 2 Tab. 24,0 x 17,0 cm. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-476-02285-1.

Rezensent:

Johann Hinrich Claussen

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Roth, Michael: Zum Glück. Glaube und gelingendes Leben. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. 272 S. 21,5 x 13,5 cm. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-579-08124-3.


Noch vor einigen Jahren waren regelmäßig Klagen über die Glücks-vergessenheit der deutschen Geisteswissenschaften, vor allem der Philosophie und Theologie, zu hören. Ein wichtiges Menschheitsthema schien der populären Ratgeberindustrie sowie den erfolgreichen, aber rein ökonomisch orientieren happiness studies überlassen worden zu sein. Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein. Innerhalb von wenigen Jahren ist in Deutschland eine Reihe von anspruchsvollen und anregenden Monographien zum Glücksbegriff vorgelegt worden, und zwar nicht nur geistesgeschichtliche Erschließungen, sondern auch eigenständige Entwürfe. Den An­fang machte die Philosophie, es folgte die katholische Theologie, die ja von ihrer Tradition her eine unverkrampfte Nähe zum Thema besitzt, schließlich legten aber auch evangelische Theologen nach, denen früher eine gewisse Sprödigkeit dem Glücksbegriff gegenüber eigen war.
In der Tat ist es sinnvoll und notwendig, das Glück endlich auch als theologisches Thema zu begreifen und zu bearbeiten. Denn die Theologie ist eine besondere Form, über die Endlichkeit und Unendlichkeit des Menschen, seine Steigerungsfähigkeit und seine Grenzen, sein Leiden und sein Glück nachzudenken. Allerdings besitzen die herkömmlichen Begriffe der theologischen Tradition nicht mehr die notwendige Lebensnähe und existenzielle Verständlichkeit, um kirchlich weniger gebundene Zeitgenossen an­zusprechen und anzulocken. Der große theologische Reiz des Wortes »Glück« besteht nun darin, dass er sich einerseits ins Un­endliche steigern lässt und andererseits die Bindung an das alltägliche Leben sowie an elementare Erfahrungen wahrt. Darum kann dieser unreine Mischbegriff ganz anders als die klassischen dogmatischen Termini den »wirklichen« Menschen in den Blick nehmen und ein neues Verständnis für das aufschließen, was in Begriffen wie »Heil«, »Rechtfertigung«, »Versöhnung« oder »Erlösung« eingeschlossen ist. Doch wie könnte eine evangelische Theologie des Glücks aus­- sehen? Um die bruchlose Adaption einer lebensweltlich sowieso schon dominierenden Orientierung am eigenen Wohlergehen kann es nicht gehen. Ziel darf es nicht sein, die Theologie ohne Umstände marktfähig zu machen. Aber es genügt auch nicht, abseits stehen zu bleiben und sich damit zu begnügen, ein ver­-breitetes Lebensgefühl moralistisch zu disqualifizieren. Vielmehr müsste es darum gehen, dieses Lebensgefühl theologisch so über sich aufzuklären, dass ihm neue, tiefere, bessere Möglichkeiten der Lebensführung und Lebensdeutung zukommen. Das kritische Potenzial der theologischen Reflexion wäre also nutzbar zu ma­chen, um das legitime Streben nach Glück von den eigenen Hemmnissen zu befreien und über sich selbst hinauszuführen.
Bevor man sich an diese Arbeit macht, muss man sich über die Geschichte und Gegenwart des Nachdenkens über den Glücksbegriff informieren. Dies ist bei der Überfülle auch neuerer Literatur nicht einfach. Zum Glück ist nun ein erstes Glücks-Handbuch erschienen, das kundig und umfassend in das weite Themenfeld einführt. Dieter Thomä und seinem Team ist es dabei gelungen, eine Reihe ausgewiesener Autoren zu gewinnen. Allerdings nimmt man das voluminöse Buch auch mit einer gewissen Skepsis in die Hand. Denn es ist eine berechtigte Frage, ob ein Handbuch für dieses Thema wirklich das geeignete Medium darstellt. Denn Glück ist, wenn es ist, stets individuell und unverwechselbar. Zwar ist es der theoretischen Reflexion und argumentativen Diskussion zugänglich, doch bleibt es jeweils etwas ganz Eigenes, das seinen Ausdruck eher in einem essayistischen Wurf oder einer literarischen Gestalt findet als in einem akademischen und das heißt ordentlichen und auf Vollständigkeit bedachten Handbuch.
Das Handbuch bietet in einem ersten Abschnitt eine – allerdings etwas weiträumige – Semantik des Glücks. So wichtig es ist, sich zunächst die entsprechenden Begriffe im Griechischen oder Lateinischen zu vergegenwärtigen, vor allem aber sich die Eigentümlichkeiten des deutschen Mischbegriffs »Glück« deutlich zu machen, so verzichtbar sind die lexikalischen Ausführungen zum Russischen oder Persischen. In einem zweiten Abschnitt folgt eine Orientierung über die Systematik des Glücksdenkens. Hier werden zahlreiche Bezugsbegriffe von »Glück« vorgestellt wie zum Beispiel Muße, Arbeit, Zeit, Sinn, Zufall, Liebe oder Utopie. Daran schließen sich Abteilungen mit Beiträgen über die Geschichte des Glücks an. Sehr verlässlich sind die Einträge vor allem von Christoph Horn über antike Autoren wie Aris­toteles, Platon oder Augustin. Mittelalter und frühe Neuzeit werden dagegen vergleichsweise kursorisch behandelt. Ein zweiter Schwerpunkt ist das 18. Jh., denn die Aufklärung lässt sich auch als Epoche des Glücks betrachten. Das bürgerliche 19. Jh. ist ebenfalls ausführlich vertreten, aber weniger durch philosophische Werke als durch die großen Romane dieser Epoche. Das 20. Jh. wird dadurch gewürdigt, dass neue Disziplinen wie Soziologie oder Psychoanalyse als Orte des Nachdenkens über das Glück vorgestellt werden. Es lässt sich kaum vermeiden, dass die Beiträge große Qualitätsunterschiede aufweisen. Die Herausgeber hätten sich aber mehr darum bemühen können, dass die begriffshistorischen Stationen gemeinsam ein argumentatives Gefüge bilden. Leider folgt zumeist rein additiv ein Artikel auf den anderen. Vielleicht hätte es geholfen, wenn auch die Traditionen der Glückskritik als Teil des Glücksdenkens berücksichtigt worden wären. Dann wären diese Rückblicke, so informativ sie oft sind, nicht so spannungslos geraten. Dazu hätte es jedoch vor allem eines viel profilierteren Kant-Artikels bedurft. Wie es gelingen kann, einen klassischen Autoren so vorzustellen, dass ein durchdachtes und doch farbiges Bild vom Glück entsteht, hat Werner Stegmaier in seinem Artikel über Nietzsche vorgemacht.
An diesen großen Durchgang durch die Jahrhunderte und Epochen angehängt ist schließlich eine Abteilung mit Artikeln über das Glück in den Weltreligionen. Hier zeigt sich am deutlichsten die Grenze der Gattung »Handbuch«. Denn wie soll man »den« Glücksbegriff »des« Christentums oder »des« Judentums in wenigen Spalten so darstellen, dass mehr herauskommt als lexikonartige Allgemeinheiten? Es wäre wohl besser gewesen, die religiösen Traditionen nicht für sich, sondern innerhalb der vorherigen geis-tesgeschichtlichen Rückblicke zu verhandeln.
Den Abschluss bildet eine Abteilung mit »aktuellen Debatten«. Auch hier ist ein roter Faden nicht ersichtlich. Es beginnt mit einem Artikel über das Glück der Tiere, geht weiter zur Biotechnik, zur Wirtschaft und endet nach weiteren eher zufällig ausgewählten Stationen mit der Theologie. Warum mit ihr »aktuelle Debatten« verbunden sind, wird leider auch nicht sofort deutlich. Der katholische Beitrag von Peter Schallenberg kommt kaum über Klischees einer vereinseitigten Gnadentheologie hinaus, wonach das Glück nicht machbar, sondern eben eine Gnade sei. Das ist richtig, wird aber argumentativ nicht plausibel gemacht. Doch diese Leere wird durch eine allzu pauschale Gegenwartskritik kaschiert. Von einem anderen Niveau ist zum Glück der evangelische Beitrag des Marburger Systematikers Jörg Lauster. Für ihn gilt: »Glück steht in einem wesenhaften Zusammenhang zur Religion.« Um diesen Zusammenhang deutlich zu machen, geht er vom Glück des erfüllten Augenblicks aus, einer Erfahrung von Transzendenz, in der sich das eigene Streben erfüllt, ohne dass sie direkt hätte intendiert werden können. Es ist eine unverfügbare Erfahrung von Sinn, welche die eigene Sinnsuche und Sinnkonstruktion übersteigt. Doch damit ist das menschliche Streben nach Glück nicht für wertlos erklärt. Im Gegenteil: »Diese theologische Deutung ermöglicht es ausdrücklich auch, die eudämonistische Seite des Glücks in den Blick zu nehmen.« Lauster zielt nicht darauf ab, die menschliche Selbstverantwortung in Lebensführung und Lebensdeutung zu disqualifizieren, sondern möchte sie in die religiöse Erfahrung integrieren. »Glück ist immer auch ein Akt humaner Selbstgestaltung« – aber eben nicht das Endprodukt eigenen Handelns. Die Theologie des Glücks erscheint hier als eine kritische Theorie, deren Beitrag zum Glück nicht zuletzt darin besteht, dass sie die Fähigkeit verleiht, Abstand vom eigenen Glücksstreben zu gewinnen, damit eine spontane Erfüllung sich einstellen kann.
Ebenfalls Handbuch-Charakter besitzt die Monographie »Zum Glück. Glaube und gelingendes Leben« des Bonner Systematikers Michael Roth. In einem Publikumsverlag erschienen, wendet sie sich an eine breitere, theologisch interessierte Leserschaft. Um­fänglich und zuverlässig informiert sie über die wichtigsten Fragehinsichten und die Antworten klassischer Autoren sowie heutiger Glücksphilosophen und Glückstheologen. Nach ausführlichen Vorbemerkungen, in denen R. gegenwärtige Glücksdiskurse referiert und versucht, »das allzu runde Bild vom protestantischen Antieudämonismus von Luther bis Kant« aufzubrechen, beginnt er seine Darlegungen mit Beobachtungen über die Selbstverständlichkeit und die Unverfügbarkeit des Glücks. Daran schließt sich ein 3. Kapitel mit Überlegungen an, weshalb das Glück keine direkte Handlungsintention sein kann. Im 4. Kapitel verhandelt R. die Zeitlichkeit des Glücks, seine Ambivalenz zwischen Augenblickserfüllung und übergreifendem Lebensglück. Doch die eigentliche Zeit des Glücks ist, wie im 5. Kapitel ausgeführt wird, die Gegenwart. Glück ist gegenwärtig, d. h. es ist eine besondere Art, in der Gegenwart da zu sein. Aus der Einsicht in die im Glück erfahrene Selbstzwecklichkeit des Daseins folgt im 6. Kapitel eine Kritik an Glücksprogrammen, also den Versuchen, das Glück planmäßig und handhabbar zu machen. Das eigentlich theologische Kapitel ist das achte und trägt die Überschrift »Zugesagte Gegenwart«. Im Anschluss an Oswald Bayer versucht R. Luthers Rechtfertigungsglauben so auszulegen, dass das Leben aus dem Glauben deshalb so glücklich ist, weil der Glaube allererst dazu befähigt, ohne sorgenvolle Nebengedanken an Vergangenheit und Zukunft in der Ge­genwart da zu sein. Doch wie dieses Glaubensglück erfahren werden kann, wird nicht recht deutlich. Es bleibt allzu oft bei dogmatischen Allgemeinheiten, wie »wir« im Glauben das Glück finden. Ein theologisch pointiertes, individuell akzentuiertes und darum allgemein anregendes Gedanken-Bild des Glücks entsteht dabei nicht.