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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

844–845

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fuchs, Marko J.

Titel/Untertitel:

Sum und cogito – Grundfiguren endlichen Selbstseins bei Augustinus und Descartes.

Verlag:

Paderborn/ München/Wien/Zürich: Schöningh 2009. 302 S. 23,2 x 15,8 cm = Augustinus – Werk und Wirkung, 1. Kart. EUR 46,90. ISBN 978-3-506-76845-2.

Rezensent:

Georg Neugebauer

Die anzuzeigende Untersuchung von Marko J. Fuchs wurde im Jahre 2008 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommen. Sie versteht sich als Beitrag zu einer Strukturtheorie endlicher Subjektivität und ist von der Überzeugung getragen, dass für die Entfaltung einer solchen Theorie weniger – wie gemeinhin angenommen – von Descartes als vielmehr von Augustinus wichtige Anregungen ausgegangen seien, insofern dieser in viel stärkerem Maße als jener das Problem der Zeit reflektiert habe. Damit knüpft F. explizit an eine Position an, die von Martin Heidegger prominent vertreten wurde.
Die Untersuchung ist von der Annahme geleitet, dass die zu ermittelnde Selbstgewissheit endlicher Subjektivität nicht das Resultat gegenstandsbezogener Operationen des Geistes sein kann, für die das im Titel angegebene cogito steht, sondern operational vermittelter Selbstbezüglichkeit strukturell vorgeordnet sein muss. Sie gründet – so die These – in einem prädiskursiven, un­mit­telbaren Sich- bzw. Michkennen, das sich in dem Ausdruck sum verdichtet. Um diese These zu erhärten, lotet F. in zwei Hauptteilen die Reichweite und die Grenzen der Beiträge aus, die Augustinus und Descartes zu diesem Thema geleistet haben.
Der erste Hauptteil widmet sich Augustins Konzeption der mens humana. F. arbeitet darin die unterschiedlichen Versuche des Kirchenvaters heraus, die temporale Struktur endlichen Selbstseins zu denken, die jedoch seiner Auffassung nach immer wieder in Aporien führen. Das zeige eine Analyse der ontologischen Prämissen der Confessiones ebenso auf wie die im zweiten Unterkapitel diskutierte memoria-Lehre. Zentrale Bedeutung hat für F. die Frage, in welchem Verhältnis die Konstitution endlichen Selbstseins zum Gottesgedanken steht. Seine Überlegungen zu diesem Thema, die durch einen dazwischen geschalteten Exkurs zum sog. Sextus-Dilemma motiviert werden, gehen von der metaphysischen An­nahme aus, dass das Sich- bzw. Michkennen ein »Gotteskennen« (60) notwendig impliziere. Inwiefern es Augustinus gelungen ist, diese Relation konsistent zu durchdenken, prüft F. im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der in De Trinitate entfalteten Geisttheorie. Auch wenn Augustinus in De Trinitate eine gegenüber den Confessiones »alternative Selbsterkenntnisstruktur« (123) entworfen habe, die mit einer »Destruktion eines Reflexionsmodells von Selbsterkenntnis und Selbstkenntnis« (282) und einer Annäherung an das den objektivierenden Operationen des Geistes vorgeordnete Sichkennen bzw. sum einhergeht, müssen die von ihm unternommenen Anläufe, eine dem menschlichen Geist eingestiftete trinitarische Struktur mit philosophischen Mitteln aufzuweisen, als gescheitert angesehen werden.
Der zweite, Descartes gewidmete Hauptteil setzt sich zunächst mit den methodischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen auseinander, die in den Regulae und in der ersten der Meditationes entfaltet wurden. F. fokussiert unterschiedliche Erkenntnisoperationen, die sich unter einen Begriff von cogitare subsumieren lassen, der durch das Merkmal eines nur punktuellen Auftretens ge­kennzeichnet ist. Aufgrund dieser Eigenschaft könne er nicht als Grund von Gewissheit fungieren und verweist – vor dem Hintergrund des Gewissheitsproblems betrachtet – somit indirekt auf eine perennierende Form der Selbsthabe, die durch das sum repräsentiert wird.
Aber auch ein weiterer, im zweiten Unterabschnitt entwickelter Begriff von cogitare sei für die Lösung des infrage stehenden Problems unzureichend. F. kommt zu dem Ergebnis, dass diese als essentiell bezeichnete Form des cogitare zwar als zeitübergreifend zu verstehen sei. Seine Interpretation des Cogito-sum-Arguments der zweiten Meditation kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass das ›ich bin‹ dem ›ich denke‹ sachlich vorgeordnet sei. Anders formuliert: Während das sum den substanten Faktor des Cogito-sum-Arguments darstelle, handele es sich auch beim essentiell verstandenen cogitare um eine akzidenzielle Bestimmung.
Das dritte Unterkapitel stellt diesen Befund insofern auf die Probe, als es die Annahme problematisiert, ob es unter den ontologischen Prämissen der cartesianischen Philosophie überhaupt möglich sei, das sum als Substanz zu konzeptualisieren. Die angestellten Überlegungen führen F. zu einem negativen Ergebnis, insofern jeder der von Descartes eingeschlagenen Wege, die Kategorie der Substanz zu bestimmen, in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem als akzidenziell bestimmten cogitare steht.
Das letzte Unterkapitel reflektiert das Verhältnis von cogito und sum vor dem Hintergrund der metaphysischen Prämissen der Gottesbeweise. In der Rekonstruktion der unterschiedlichen Argumentationsstufen Descartes’ beobachtet F. – ähnlich wie bei Augustinus im Übergang von den Confessiones zu De Trinitate – eine Abwendung von den durch das cogitare repräsentierten Ideen und eine Hinwendung zu der Frage nach den existenzialen Bedingungen endlichen Selbstseins. Doch trotz dieser Akzentverschiebung münde Descartes’ Anliegen, die Dependenz endlichen, gegenwärtigen Selbstseins vom ewigen Sein Gottes zu bestimmen, in Aporien, insofern sie versuchen, dieses Abhängigkeitsverhältnis mit den Mitteln zu begründen, die jenes Verhältnis zur Voraussetzung haben.
Auch wenn F. bestreitet, dass Heideggers philosophiegeschichtliches Urteil über Augustinus und Descartes die »Hintergrund­folie« (9) seiner Untersuchung bilde, kann Letztere als der Versuch gelesen werden, Heideggers These durch eine sehr hochstufige, subtile und textnahe Interpretation derer Werke argumentativ einzuholen. In ihrem metaphysischen bzw. religionsphiloso­phischen Interesse geht sie jedoch über Heidegger hinaus. Hieran anknüpfend legt sich allerdings die Frage nahe, ob die von Augus­tinus und Descartes ausgehenden Reflexionen zum Verhältnis von endlicher Subjektivität und Gottesgedanken dem Anspruch der Untersuchung standhalten, einen Beitrag zu einer modernen Subjektivitätstheorie zu leisten. Sodann schattet sich der von Heidegger inspirierte Zugang zur Philosophie der Subjektivität darin ab, die sich in Kontinuität zu Descartes verstehende nachkantische Problementwicklung im Bereich der Subjektivitätstheorie abzublenden bzw. andeutungsweise zu delegitimieren. Diese Abgrenzung scheint mir jedoch insofern kontraproduktiv zu sein, als die Berücksichtigung dieser Theorietradition für das von F. diskutierte Thema dazu verhelfen könnte, das im Spitzenbegriff des Mich- bzw. Sichkennens enthaltene reflexive, auf die Ebene des Mentalen verweisende Moment in eine Theoriesprache zu überführen. Denn das in diesem Begriff angezeigte Element des Selbstbezüglichen verweist auf eine Struktur, deren Komplexität sich nicht ohne Weiteres unter den von F. angegebenen subjektivitätstheoretischen Prämissen zureichend bestimmen lässt.