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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

842–844

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fröhlich, Gerhard, u. Boike Rehbein [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.

Verlag:

Stuttgart/Weimar: Metzler 2009. XI, 436 S. m. 6 Tab. 24,0 x 17,0 cm. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-476-02235-6.

Rezensent:

Alf Christophersen

Bei der Suche nach Struktur und Orientierung im unübersichtlichen Terrain der Theorien und Entwürfe, ihrer Grundlagen und Anwendungsgebiete scheint die Institution »Handbuch« eine Hilfe zu sein, um den gewählten Ausschnitt in den Griff zu bekommen. Die Methode ist dabei wählbar, wenn sie nur dem Ziel umfassender Information dient. In wachsender Zahl erreichen zusam­menfassende Werke den Markt; gerade auch Theoretiker von Rang werden in nahezu allen Wissenschaftszweigen auf diese Weise präsentiert – oft von einer ganzen Armada an Autoren. Der Stuttgarter J. B. Metzler-Verlag hat eine Vielfalt entsprechender, in der Regel solide erarbeiteter Titel im Programm. Erschlossen wurden etwa Leben, Werk und Wirkung von Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant, Friedrich Hölderlin oder Martin Heidegger. Gerhard Fröhlich (Linz) und Boike Rehbein (Berlin) haben sich als Herausgeber nun mit der französischen Soziologie-Ikone Pierre Bourdieu auseinandergesetzt – einem Genie seines Faches, dessen Konzepte Franz Schultheis und Michael Vester nicht zu Unrecht als »soziale Relativitätstheorie« (373) würdigten.
In vier Hauptteilen nehmen die Autoren der Einzelartikel aus unterschiedlichen Richtungen Anläufe, um die hochkomplexen Denkmuster Bourdieus zu ergründen. Zunächst werden »Einflüsse« eruiert (1–64), denen der Soziologe ausgesetzt war. Verstanden werden darunter nicht nur »Leben und Zeit« (wobei sich die Frage aufdrängt, inwieweit wohl eine Biographie überhaupt unter dem Leitbegriff »Einflüsse« erfasst werden kann), sondern vor allem französische Epistemologie, Phänomenologie und Strukturalis­mus, aber auch E. Cassirer, É. Durkheim, N. Elias, M. Foucault, K. Marx, M. Mauss, Max Weber und L. Wittgenstein. Bei allem Bemühen um Stringenz bleibt dieser erste Hauptteil etwas unausgewogen und fragmentarisch. Es wird nicht deutlich, wie die exklusive Auswahl der Einzelpersonen zu begründen ist, zudem sind die ihnen geltenden Beiträge leicht unterdifferenziert. Umso stärker fällt demgegenüber der zweite Teil aus (65–244), in dem 46 der für Bourdieus Werk entscheidenden Begriffe in einer Form erläutert werden, die bei fortschreitender Lektüre eine faszinierende Sogwirkung auszuüben vermag. Über »Autonomie«, »Distinktion«, »Feld«, »Habitus«, »Herrschaft«, »Kampf« und »Konflikt« führt der Weg über »Lebensstil«, »Markt«, »Praxis« und »Relation« zum »Sozialen Raum«, zu »Strategie«, »Symbol« und schließlich sogar »Verstehen«.
Durch das Begriffsnetz vorbereitet, kommen im dritten Hauptteil die Werke Bourdieus ins Blickfeld (245–371). Es erweist sich als geschickte Entscheidung der Herausgeber, unterschiedliche Kategorisierungen zu verknüpfen. Zunächst werden unter den Überschriften »Algerien«, »Bildungssoziologie« und »Wissenschaftstheo­rie« die Frühwerke erfasst. Daran schließen sich die Hauptwerke an, von denen vier jeweils für sich erläutert werden: »Entwurf einer Theorie der Praxis«, »Sozialer Sinn«, »Die feinen Un­terschiede« und »Der Staatsadel«. Bourdieus Texte, in denen er sich gegen den Neoliberalismus wendet, runden das Bild ab, dominiert von der be­rühmten Studie »Das Elend der Welt«. Es drängt sich ein Autor in den Vordergrund, der von sich selbst als Intellektuellem die Intervention verlangt: die auf praktische Konsequenzen drängende, kritische Stellungnahme zu aktuellen politischen und sozialen Problemlagen. Die ungeheure Vielfalt weiterer Schriften Bourdieus, die oft Gemeinschaftsarbeiten waren, wird in einem Folgeschritt unter dem Stichwort »Feldanalysen« erörtert. Neben Wis­senschaft, Wirtschaft, Politik, Philosophiekritik, Sprache, Kunst, Fotografie und Literatur wird dabei auch die Religion thematisch. In sehr knapper Form setzt B. Rehbein auf anderthalb Seiten zumindest einige Akzente, die deutlich werden lassen, dass Bourdieus Ringen mit der Religionssoziologie ein integraler Werkbestandteil ist. Zur zentralen Leitfigur wurde hier Max Weber, der nicht zuletzt für die Ausbildung der Begriffe »Habitus« und »Feld« Anregungen lieferte. Bourdieu suchte nach dem symbolisch aufgeladenen, spezifischen Interesse im autonomen religiösen Feld, lotete das Phänomen »Ra­tionalisierung und Professionalisierung« aus. »Religion im eigentlichen Sinne« war für ihn dann gegeben, »wenn neben der magischen Nachfrage die Erwartung besteht, dem Leben – und zwar insbesondere dem sozialen Leben – einen einheitlichen Sinn zu verleihen« (359). Dem Verhältnis von Priesterschaft und Laien widmete Bourdieu besondere Aufmerksamkeit. Wenn die Priesterschaft, folgerte er, eine Theologie entwirft, die sie dann zum Dogma erhebt, rationalisiert sie nicht nur die Religion, sondern generiert auch ein Machtfundament, dessen Geltung und dessen Fortbestand von ihr exklusiv garantiert wird. Die Strukturen der Klassengesellschaft spiegeln sich in der Religion, »allerdings in verklärter Form«. Das religiöse Feld wird zum »Spiegelbild der sozialen Kräfteverhältnisse insgesamt« (359).
Dem Glauben kommt die besondere Eigenschaft zu, »die Herrschaftsstrukturen in subjektive Überzeugung« (360) zu übersetzen. Das Bild der Kirche erweist sich als ambivalent: Sie war dazu in der Lage, sich ein Monopol zu erarbeiten, weil es ihr gelang, ganz un­terschiedliche Erfahrungen in eine hierarchische Struktur zu überführen. »Ferner verkörpert sie die Leugnung des Ökonomischen, während sie zugleich ein wirtschaftliches Großunternehmen ist und im weitesten Sinne eine ›Ökonomie der Heilsgüter‹ betreibt, um das religiöse Feld zu beherrschen.« (360) Die Kunst der Interpretation, so geben es die Herausgeber ihrem Lesepublikum gleich zu Beginn des Handbuchs mit auf den Weg, liege gerade darin, solche kritischen Reserven des Soziologen vor dem Hintergrund der theoretischen Tiefe des Gesamtwerkes zu verstehen, um nicht vorschneller Trivialisierung Vorschub zu leisten, die sich bei der Eingängigkeit der Begriffsmuster anbiete.
Im vierten Hauptteil (373–407) wird die internationale Rezeption Bourdieus verhandelt. Er läuft auf kritische Rückfragen zu, die »blinde Flecken« aufzeigen wollen und von den Gedanken getragen sind, dass der Soziologe in seinem Werk der Individualität und der Freiheit des Menschen nicht gerecht werde und keine Antwort auf die ganz eigene Dramaturgie der Beschleunigungsdynamik geben könne, die vom Prozess der sog. Globalisierung ausgehe – denn dieser sprenge eine auf das Klassenmodell fixierte eurozentrische Theorie, die letztlich noch auf die überschaubare Welt einzelner Nationalstaaten fixiert sei. Ein Anhang (409–436) liefert nicht nur reiches bibliographisches Material, sondern auch ein Glossar, in dem weitere einschlägige Begriffe erläutert werden, denen zuvor kein eigener Artikel zukam. Den größten Wert entfaltet das Bourdieu-Handbuch dann, wenn es in Gänze gelesen wird, aber auch als informative Quelle für Einzelfragen ist es nicht zu unterschätzen und für denjenigen ein wertvolles Hilfsmittel, der sich von beeindruckendem soziologischen Differenzierungsvermögen bleibenden Erkenntnisgewinn verspricht.