Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

839–842

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Korsch, Dietrich, u. Volker Leppin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Martin Luther – Biographie und Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. VIII, 335 S. 23,2 x 15,5 cm = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 53. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-150454-9.

Rezensent:

Hellmut Zschoch

Der Band versammelt die Beiträge einer Marburger Tagung, bei der, ausgelöst durch einen sich an Leppins Lutherbiographie an­schließenden Disput der Herausgeber, das Verhältnis von Biographie und Theologie bei Luther genauer in den Blick genommen werden sollte. Vorgesehen war, »an markanten Lebensstationen … jeweils eine stärker biographisch und eine stärker theologisch akzentuierte Perspektive ins Gespräch miteinander« zu bringen (V, Vorwort). Deshalb bilden sechs Aufsatzpaare den Hauptteil des Bandes, die das Freiheitsverständnis in den Jahren des Bekanntwerdens Luthers, das Ende seiner Mönchsexistenz, seine Eheschließung, die Zeit auf der Coburg, die Auseinandersetzung mit den »Antinomern« und die späten antijüdischen Schriften beleuchten. Sie werden ergänzt durch Beiträge zu Luthers Briefwechsel und zu Leitfragen der Biographie des Reformators und gerahmt durch grundsätzliche Überlegungen der beiden Herausgeber.
Während Dietrich Korsch einleitend das Verhältnis von »Biographie, Individualität und Religion« behandelt (1–8) und dabei besonders auf die religiöse Selbstdeutung als Basis der theologischen Reflexion des Biographischen abhebt, schärft Volker Leppin in seinem Nachwort (313–318) ein, dass die Beschäftigung mit der »Identifikationsgestalt« (314) Luther in besonderer Weise einer genauen Kontextualisierung und einer Selbst- und Fremdbeschreibung sorgfältig unterscheidenden kritischen Quellenanalyse be­darf. Diese Erörterungen würden wohl noch an Profil gewinnen, wenn der Begriff der Erfahrung, der bei Leppin gar nicht und bei Korsch nur unbetont vorkommt, zur »Erdung« der Abstraktionen Biographie und Theologie genutzt würde. In diese Richtung weisen auch die Bemerkungen von Johannes Schilling zu der in Luthers Briefen fassbaren »Evangelische[n] Existenz« (287–303), die ausdrücklich »Leben und Glauben« statt »Biographie und Theologie« thematisieren. Bernd Moeller sieht den »biographische[n] Son­-derfall Martin Luther« (305–311) im Ineinander von Einflüssen, eigenen Werken und Wirkungen, was den Reformator einerseits unableitbar individuell erscheinen lässt, ihn andererseits aber nur im Zusammenhang der Reformation als Ganzer zu verstehen erlaubt. Theologisches Deuten und persönliches Erleben stehen in Wechselwirkung, z. B. im Blick auf die postulierte und erfahrene Freiheit des Christenmenschen; in Moellers schöner Formulierung: »Tatsächlich wurde er [= Luther] der zutiefst freie Mann, als den er sich theologisch definierte.« (309)
Die Aufsatzpaare bieten durchweg gediegene, zum Teil auch innovative, Studien zu biographischen Stationen und theologischen Orientierungen Luthers; nur mit Mühe ist in ihnen freilich die angestrebte Differenzierung von biographischer und theologischer Akzentuierung zu entdecken. Am ehesten dürften die Beiträge der Herausgeber zur Coburgzeit zu erkennen geben, was intendiert war. Volker Leppin beschränkt sich auf eine »Lektüre von Luthers Coburgbriefen« (169–181), die im Grunde nachweist, dass die quellenkritische Dekonstruktion, für die der Autor eingangs mit Emphase plädiert, angesichts der klaren Texte kaum nötig ist, um die Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Luther und Melanchthon zu konstatieren. Dietrich Korsch wird in seiner ausdrücklich auf den »Theologen« Luther fokussierten Betrachtung der Coburgzeit (183–194) deutlich dekonstruierender, indem er herausarbeitet, dass die Wormser Erfahrung des Reformators diesem den »Blick auf die realen Gegebenheiten« von Augsburg und auf die besonderen Anforderungen an ein »kollektives Bekenntnis« (186) verstellt. Indem Korsch den biographischen Kontext so in seinen Tiefendimensionen erschließt, macht er zugleich die theologische Dimension des Konflikts zwischen Luther und Melanchthon deutlich: Es handelt sich um den »Modellfall« (194) der »Spannung zwischen der subjektiven Authentizität des Glaubens und der lehramtlichen Ordnung der Kirche« (183). So führen beide Studien von Luthers Briefen über den geweiteten und theologisch reflektierten Erfahrungskontext zu einer dem Protestantismus bleibend aufgegebenen Orientierungsfrage.
Bei den anderen Themen des Bandes ist diese Dynamik schwerer auszumachen. In den Beiträgen »Luthers Freiheitsvorstellungen und ihr sozialer und rhetorischer Kontext« von Georg Schmidt (9–30) und »Luthers Freiheitsbewußtsein und die Freiheit eines Christenmenschen« von Reinhard Schwarz (31–68) ist die Differenz von sozialhistorischer und kirchengeschichtlicher Perspektive un­verkennbar, die aber kaum als Unterscheidung von biographisch gegenüber theologisch zu beschreiben ist. Gerade die präzise Re­konstruktion des theologischen Gehalts der Freiheitsschrift wird von Schwarz eng mit dem Rekurs auf die lebensgeschichtlich fassbare Begründung und Proklamation von Freiheit bei Luther verknüpft.
Auch zum Ende der Mönchsexistenz Luthers verbinden die Beiträge in sehr unterschiedlicher Weise Biographisches und Theologisches. Andreas Odenthal widmet sich dem noch kaum erforschten Verhältnis Luthers zum Stundengebet (69–117). Dabei ordnet er das biographische Ende der als Folge des Pensumgedankens zum Symbol werkhafter Frömmigkeit gewordenen horae canonicae ein in die »Versuche der Selbstdeutung und -stilisierung …, die im Kontext seiner [= Luthers] Auseinandersetzung mit der monastischen Lebensform zu sehen sind« (94). Odenthal weist aber auch auf Luthers Versuch hin, das Stundengebet als »Lernzeiten der Gemeinde« (104) zurückzugewinnen. Das hat durchaus eine Entsprechung darin, dass Luther, wie Wolf-Friedrich Schäufele es zu Luthers »doppelte[m] Abschied vom Mönchtum« anhand der Zäsuren 1520/21 und 1524/25 herausarbeitet (119–139), zunächst mit einem gelübdefreien evangelischen Mönchtum experimentierte. Allerdings blieb dieses Experiment Episode, weil Luther sich schließlich doch, wenn auch durchaus schweren Herzens, mit dem Ablegen der Kutte und der Eheschließung für »das deutlichere Zeugnis für die evange­lische Freiheit« (137) entschied. Die Eheschließung des Reformators wird dann von Armin Kohnle als »theologisches Zeichen« (141–151) und von Wolfgang Breul »im Kontext des Aufstands von 1525« (153–167) betrachtet. Ersterer stellt Luthers persönliche Motivation ins Zentrum, Letzterer die literarischen Äußerungen zur Ehe, be­son­ders den Sendbrief an Albrecht von Brandenburg vom Mai/Juni 1525.
Eine deutlich unterschiedene biographische bzw. theologische Perspektive lässt sich auch bei der Behandlung der Antinomerdis­putationen durch Martin Brecht (195–210) und Walter Sparn (211–249) kaum finden. Beide Beiträge zeichnen, bei Brecht eher den Texten folgend, bei Sparn eher systematisch strukturierend, Luthers Gesetzesverständnis in diesem Konflikt nach und betonen den Zusammenhang mit der für Luther zentralen Bußthematik. Deutlich differente Akzente setzen hingegen die beiden Studien zu Luthers späten Judenschriften, auch hier nicht entlang einer Scheidelinie biographisch-theologisch. Anselm Schubert (251–270) sieht als »organisierende logische Mitte« von Luthers Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« das Motiv der »Mitschuld an fremder Sünde«, das der Reformator »aus dem zeitgenössischen juristischen Diskurs entlehnt« habe (253). Demgegenüber verortet Hans-Martin Kirn (271–285) Luthers Judenfeindschaft vor dem Hintergrund einer »apokalyptisch zugespitzte[n] Daseinsdeutung« (273). Beide Autoren sehen aber Luthers massive Wendung gegen die Juden entscheidend motiviert durch die Verunsicherung des Schriftprinzips, die nach Schubert zu einer »Verschiebung der diskursiven Ebene« und damit an die »implizite Grenze« von Luthers Theologie führt (270), nach Kirn zu bibelhermeneutisch grundgelegten »apokalyptische[n] Verblendungen« (285).
Der Band zeigt eindrücklich, dass es sich lohnt, dem Ineinander von Biographie und Theologie an verschiedenen Lebensstationen Luthers nachzugehen, auch wenn die Verteilung biographischer und theologischer Akzente auf verschiedene Bearbeiter nicht wirklich zu überzeugen vermag. Für den in der Kirchen- und Theologiegeschichte doch vermutlich unstrittigen Zusammenhang des Lebens mit dem Glauben und mit der theologischen Reflexion von beidem ist Luther wohl eher kein »Sonderfall«, gewiss aber ein besonders anschaulicher Modellfall. Dazu lässt sich aus diesem Buch viel lernen.