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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

838–839

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Luthers »Judenschriften«. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XI, 231 S. m. Abb. 22,4 x 14,5 cm. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-150772-4.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Die Studie des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann setzt in der Analyse der »Judenschriften« Luthers einen besonderen Akzent auf die »in der Forschung eigentümlicherweise wenig beachtete und kaum über die in der Weimarer Ausgabe enthaltenen Einleitungen hinaus weiterverfolgte Frage nach den historisch-kontextuellen Publikations- und Rezeptionsbedingungen« (1). Diesem Thema hatte sich K. bereits 1998 in einem Aufsatz und 2005 in einer längeren Abhandlung sowie einem Handbucheintrag gewidmet, die in überarbeiteter Form in die erheblich erweiterte und ergänzte vorliegende Publikation eingegangen sind. K. leistet mit der Studie einen Beitrag zu einer historisch korrekten Urteilsbildung, deren Ziel keineswegs in einer vordergründigen Rehabilitation der protestantischen Leitfigur Luther zu sehen ist, wie die eine oder andere Rezension gern unterstellt. K. geht es vielmehr um eine differenzierte, aber dennoch kritische Sicht in abgrenzender Analyse zu einer falschen Inanspruchnahme des Reformators, wie vor allem in den letzten beiden Kapiteln deutlich wird (V. Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Luthers »Judenschriften« u. VI. Luthers »Judenschriften« und die Grenzen der Reformation – zusammenfassende Überlegungen).
Nach seinen einleitenden Bemerkungen werden wesentliche Aussagen der Untersuchung schon im 2. Kapitel deutlich (Zum »Sitz im Leben« von Luthers Auseinandersetzungen mit dem Judentum). So sei es Luther, der sich im Übrigen stets an Orten aufgehalten habe, an denen es keine Juden mehr gab, weniger um den Dialog mit Juden gegangen als um eine Stärkung und Selbstvergewisserung der Chris­ten im Glauben. Kritik an der Gesetzlichkeit des Judentums und seiner spitzfindigen vom Zentrum der Schrift ablenkenden Auslegungsmethoden, wie sie in der rabbinischen Literatur evident werden, sind für Luther von Anfang an leitend, auch wenn die literarischen Konsequenzen daraus beim jungen Luther andere sind als beim alten. Der historischen Abfolge entsprechend widmet sich K. im 3. Kapitel zunächst Luthers Schrift von 1523 »Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei« und stellt sie in den Kontext spätmittelalterlicher und zeitgenössischer Diskussionen. Die im Vergleich zu den späteren Schriften weit verbreitete als freundlich empfundene, das Verhältnis zum Judentum neu ordnende Schrift mahnt zwar an, die Juden nicht wie »Hunde« zu behandeln, und weist Hostienfrevel und Ritualmordlegenden, deren möglichen Wahrheitsgehalt er in seinen späten Judenschriften einräumt, zurück, Hauptaugenmerk liegt aber auf einem exegetisch zwingenden Beweis, dass der Jude Jesus der Messias sei. Dabei muss Luther sich gegen den Vorwurf wehren, er habe die Jungfrauengeburt geleugnet, indem er Jesus als »Samen Abrahams« bezeichnet habe. Dem setzt Luther eine dogmatisch geschickt konstruierte These von der Vereinbarkeit beider Vorstellungen, der Einheit von leiblicher und geistiger Natur, der Abstammung von Abrahams Samen und der reinen Jungfrau entgegen. Mit der Schrift verbunden ist die Absicht, Juden für den von ›papistischer Entstellung‹ gereinigten evangelischen Glauben zu gewinnen. Dabei sieht K. als Adressaten eher Christen an, die sich der Judenmission widmen wollen, als Juden selbst. Das Buch sieht er als Hilfe, Juden anzuleiten, ihre Heilige Schrift richtig zu lesen. K. kontextualisiert die Schrift mit anderen Flugschriften der Zeit, so der u. a. von Ludwig Hätzer, einer Randfigur der Täuferbewegung, 1524 publizierten Schrift des Rabbi Samuel, die ebenfalls beweisen will, dass Jesus der Messias ist; ferner mit freundlich gehaltenen Dialogschriften, in denen Disputationen mit Juden literarisch gestaltet werden. Ebenso referiert K. den Inhalt einer Schrift, die von einer bevorstehenden Rückeroberung Jerusalems durch 500.000–600.000 bisher verborgene Juden handelt, und deren mögliche Wirkung. Dass sich die Juden durch Luthers frühe Judenschrift in ihrer »Verstocktheit« bestärkt fühlen könnten, leitet zu dem entscheidenden 4. Kapitel über, das sich unter der Überschrift: Kontinuitäts- und Diskontinuitätsmomente in Luthers Haltung gegenüber den Juden mit den Spätschriften beschäftigt, und zwar zunächst mit »Wider die Sabbather«, dann » Von den Juden und ihren Lügen«. Bevor K. sich unter Einbeziehung der Schriften »Vom Schem Hamphoras« und »Von den letzten Worten Davids« intensiv und differenziert mit den drei Schriften von 1543 auseinandersetzt, ihre Wirkung und ihren inneren Zusammenhang aufzeigt, vergleicht er zu­nächst die seiner Auffassung nach wichtigste der drei Schriften (Von den Juden und ihren Lügen) mit dem Messiasdialog Sebastian Münsters.
Interessant sind die hier, aber auch im Zusammenhang anderer Flugschriften gemachten Ausführungen zu einer möglichen Kenntnis Luthers dieser Schriften. Wichtig ist die Erkenntnis K.s, dass Luther sich deutlich vom Weg der christlichen Hebraisten abgrenzt, die ihm zu sehr »judentzen«. Insbesondere bei Sebastian Münster ist festzustellen, dass er aus seiner Kenntnis rab­binischer Literatur heraus für Luthers Geschmack den jüdischen Disputanten zu stark werden lässt, so dass das erstrebte Ziel einer Widerlegung der jüdischen Positionen nicht mehr plausibel genug erscheint. Als wichtig für Luther arbeitet K. die Kontinuität seines exegetischen vor allem am Alten Testament orientierten Ansatzes und seines hermeneutischen, im Neuen Testament zu findenden Schlüssels heraus. Durchaus kritisch beschreibt er dann die im dritten Teil der ersten Schrift von 1543 von Luther geforderten Maßnahmen gegen die Juden als Konsequenz einer Sorge um die entstehende und zu festigende kirchliche Ordnung. Sie sind auch als Sorge um eine staatliche Ordnung zu sehen, als Angst vor einer diese Ordnung störenden an seiner frühen »Judenschrift« orientierten Politik der Fürsten und von einer geradezu als Obsession begegnenden Furcht Luthers vor einer Strafe Gottes angesichts ungeordneter Verhältnisse in den beiden regimina zu sehen.
Die Studie enthält in 15 Anhängen vertiefende Hinweise zu einzelnen Aspekten der Untersuchung. Die Studie ist mit Abbildungen versehen, Namen- Orts- und Sachregister erleichtern die Arbeit mit der außerordentlich wertvollen Untersuchung.