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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

836–838

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Campi, Emidio, u. Philipp Wälchli [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zürcher Kirchenordnungen 1520–1675. 2 Teilbde.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2011. 1. Teil: XLVIII, 704 S. 2. Teil: XV, S. 705–1388 m. Abb. u. CD-ROM. 24,4 x 17,0 cm. Geb. EUR 250,00. ISBN 978-3-290-17598-6.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Anzuzeigen ist die erstmals unternommene kritische Edition derjenigen frühneuzeitlichen Kirchenordnungen, die in den historischen Grenzen des Kantons Zürich erlassen und umgesetzt wurden. Die stattliche, chronologisch geordnete Dokumentation be­ginnt mit den Anfängen der Zürcher Reformation in den 1520er Jahren und endet vernünftigerweise mit dem Jahr 1675, das durch die Abfassung der Formula Consensus Ecclesiarum Helveticarum eine wichtige, für die Schweizer Kirchengeschichte zäsurale Bedeutung erhielt. Nachdem die 1902 von Emil Sehling für Deutschland aufgenommene Edition der reformationsgeschichtlichen Kirchenordnungen inzwischen weit fortgeschritten ist und auch für Frankreich und Österreich entsprechende Vorhaben im Gange sind, erfüllt dieses am Institut für Schweizer Reformationsgeschichte der Universität Zürich erarbeitete, durch den Schweizer Nationalfonds großzügig geförderte Unternehmen ein seit Langem bestehendes, dringliches Desiderat.
Dabei bereitete die gattungsspezifische Sammlung der Texte in diesem Fall außergewöhnliche Mühe. Trägt doch kein einziger der damals für Zürich ausgefertigten Erlasse den Aufdruck Kirchenordnung in seinem Titel. Auch die von den Herausgebern sorgsam erstellten und begründeten Auswahlkriterien (vgl. XXII–XXIV) führten naturgemäß zu vielfältigen Abgrenzungsproblemen. Insofern kann die Entscheidung, im Zweifelsfall einen Text eher aufzunehmen als fortzulassen, mit ungeteilter Zustimmung rechnen.
Die Zürcher Glaubenserneuerung setzte nicht mit einem förmlichen Reformationsmandat ein, sondern manifestierte sich zu­nächst in einzelnen, gegenüber der katholischen Religionspraxis distanznehmenden Anweisungen. Dabei stellte das 1524 verfügte Moratorium betreffend Messe und Heiligenverehrung (17–19) zweifellos einen ersten signifikanten Höhepunkt dar. Indessen kristallisierten sich bald weitere Schwerpunkte der als dringlich erachteten religiösen und sittlichen Regulierung heraus. So wurde das Verbot »abergläubischer« Praktiken (Zauberbücher, Magie, Fastnachtsbräuche, Maskenwesen u. Ä.) vielfach variierend erneuert. Erst recht beanspruchten die Verfügungen zur Ehe- und Ehe­-gerichtsordnung sowie, damit verbunden, gegen alle Formen von Unzucht und Ehebruch anhaltend breiten Raum. Auch ausschweifende Lebensformen und unziemlicher Luxus erforderten stetige Regulation, insbesondere hinsichtlich modischer Kleidungspracht, nächtlicher Umtriebe und, dies vor allem, zur Eindämmung ungezügelter Völlerei. »In manchen Texten«, konstatieren die Herausgeber treffend, »mag der Eindruck entstehen, dass sich Teile der Zürcher Bevölkerung im wesentlichen mit Essen und Trinken beschäftigten und dies vorzugsweise am Sonntag« (XXXII).
Besondere Aufmerksamkeit verdient die 1532 erlassene Synodalordnung (129–150), die keineswegs nur eine technische Geschäftsordnung bereitstellte, sondern zugleich detaillierte Anweisungen zum Wahlverfahren und zur Investitur der Geistlichen ausgab sowie zur gesamten Lebens- und Amtsführung der evangelischen Pfarrer. Im frühen 17. Jh. und zumal vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges nahmen dann Regulierungen des Ar­men- und Bettelwesens, das aus der Abhängigkeit von spontanen Almo­sengaben in eine systematische obrigkeitlich verwaltete Ordnung überführt werden sollte, sowie die nahezu jährlich erneuerten Bettagsmandate immer mehr überhand. Bezüglich der religiösen Minderheiten gab lediglich das Täufertum zu scharfer, nicht selten offensiver Abgrenzung Anlass. Dagegen fanden andere Bewegungen wie die Antitrinitarier oder Schwenckfeldianer, aber auch das Judentum erstaunlicherweise überhaupt keine Erwähnung.
Das Bestreben, die zahlreichen Einzelvorschriften in ein übergreifendes Gesetzeskorpus zu bündeln, mündete seit 1550 wiederholt in ein ausführliches Sammelmandat, dessen Einhaltung be­stimmte Personen oder Gremien zu verantworten hatten. Die alljährliche öffentliche Verlesung dieser umfangreichen Großen Mandate erwies sich bald als kaum praktikabel. Deshalb erstellte man fortan kürzere, zur Proklamation besser geeignete Auszüge, die dazu auch den Vorzug boten, gezielt auf die jeweils aktuellen Missstände und Probleme eingehen zu können.
Die insgesamt 400 Dokumente, die hier in grundsätzlich vollständiger, diplomatisch getreuer Wiedergabe geboten werden, sind überaus sorgfältig ediert. Ein kritischer Apparat verzeichnet abweichende Lesarten und unsichere Konjekturen. Dazu bietet jeweils ein Kommentarteil den Nachweis der (meist biblischen) Zitate und Anspielungen, ferner die wichtigsten Sprach- und Sacherklärungen und außerdem ausreichend Querverweise, so dass jedes einzelne Do­kument für sich vollkommen verständlich ist. Im Anhang er­schließt ein 20-seitiges Glossar die schwer verständlichen Wörter, und die Register der Bibelstellen, Personen und Orte (leider nicht auch der Sachen) erleichtern zusätzlich den Gebrauch.
Angesichts der gewaltigen Arbeit, die in diese umfangreiche Do­kumentation investiert werden musste, ist es nur zu verständlich, dass im Inhaltsverzeichnis und in der Einleitung einige Druckfehler nicht mehr rechtzeitig aufgespürt werden konnten. Dass die Confessio Helvetica posterior nicht 1666 (so XXXIII), sondern 1566 approbiert worden ist, wird jeder kundige Leser umstandslos für sich selbst korrigieren.
Zu Recht weist das Vorwort der Herausgeber darauf hin, dass der Abschluss dieses Editionsprojekts auf einen erst noch bevorstehenden wissenschaftlichen Anfang verweist. Denn was hülfen auch alle kritischen Quellenausgaben, wenn man sie nicht alsbald einer intensiven Erforschung und Auswertung unterzöge? Im vorliegenden Fall werden etliche historische Disziplinen, von der Frömmigkeits-, Kirchen- und Theologiegeschichte bis hin zur Rechts-, Sprach-, Sozial- oder Kostümgeschichte, ein außerordentlich wertvolles, meisterhaft aufbereitetes, jede analytische Mühe reichlich belohnendes Auswertungsmaterial finden.