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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

832–834

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Vinzent, Markus

Titel/Untertitel:

Christ’s Resurrection in Early Christianity and the Making of the New Testament.

Verlag:

Farnham/Burlington: Ashgate 2011. VI, 276 S. 23,4 x 15,7 cm. Kart. £ 19,99. ISBN 978-1-4094-1792-7.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

Markus Vinzent annonciert provokativ eine Abenteuerreise durch die christliche Literatur der ersten zwei Jahrhunderte (von Paulus bis Origenes): »Had Marcion, who taught after 140 AD at Rome, not picked up Paul’s letters and put them together with a Gospel, the Resurrection of Christ would presumably never have made its way into the Christian Creed. The myth of God incarnate gave way, though only slowly and never fully, to the other myth of Jesus, the Risen Christ.« (2) Er lockt mit einem Scheinbild, das durch Überblendtechnik hergestellt ist. Ich zerlege das Scheinbild in die Stufen, durch die V. es entstehen lässt.
Am Anfang (10) steht als paulinisches Grunddogma: »Ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig« (1Kor 15,17). Darauf ist gesetzt der Apostolat des Paulus, der auf der direkten Offenbarung des auferstandenen Christus beruhe, so dass mit der Anerkennung des Apostels Paulus auch die Auferstehung Christi zum Grundartikel des Glaubens erhoben sei. Dazu zeichnet V. einen Kontrast: »in dat­-able early Christian writings up to and around 140 AD a surprising number of texts do not refer to Christ’s resurrection at all [I Tim, Tit, Jak, II Petr, I–III Joh, Jud, Did, Herm, II Clem, Quadratus]. Others contain only passing notes or allusions to the Resurrection [II Tim 2,8; Hebr 13,20; Apk 1,5; 2,8; I Clem 24,1; Barn 15,9]« (18).
Kapitel 1: »The Beginnings of the End« (28–76) stellt die »Jesus-Bewegung« in ein vielgestaltiges Judentum. Im pharisäischen Judentum sei die paulinische Botschaft vom auferstandenen Messias plausibel gewesen. In den anderen Richtungen wie den Sadduzäern, den Samaritanern und deren hellenisierten Kreisen habe die Person Jesus andere Interessen angesprochen. Man müsse sehen, dass an die Stelle der Auferstehung der Glaube an ewiges Leben und an die Stelle der Auferstehung Christi das Opferblut des Kreuzestodes Jesu und die Menschwerdung des Gottessohnes getreten seien. Erst Marcion habe Paulus wiederentdeckt und die Auferstehung Christi wieder zum hauptsächlichen Glaubensartikel erhoben. Deswegen schildert Kapitel 2: »Paul and the Resurrection Rediscovered« (77–191) die Tat Marcions und die Reaktionen auf sie in den christlichen Schriften, vor allem in den nicht-kanonischen, bis Origenes, wie sie teils pro-, teils antimarcionitisch zu lesen seien. Die Marcion betreffenden Themen sind die Schriftlichkeit der Glaubensquellen, die Beziehung Christi zum Schöpfergott und seinen Propheten, die Begründung der seligmachenden Botschaft in Offenbarung (Erscheinungen) des auferstandenen Christus im Vergleich zur Überlieferung, die Offenbarungsträger in Konkurrenz zu Paulus, der Status des auferstandenen Leibes Christi. Das dritte Kapitel: »Celebrating Life and Death« (193–226) weist analog nach, dass von einer liturgischen Präsenz der Auferstehung Christi nicht gesprochen werden könne und dass insbesondere das christliche Passa vom ausschließlichen Gedenken des erlösenden Leidens Christi und seines Kreuzestodes bestimmt gewesen sei, bis durch Origenes auch die Auferstehung Christi in das Feiern einbezogen wurde.
Eine abenteuerliche Reise ist ja schon der Leseweg durch alle christlichen Schriften zwischen ca. 140 n. Chr. und Tertullian/Klemens von Alexandrien unter dem Gesichtspunkt, welche Elemente PRO und welche Elemente contra Marcion ihren Autoren das Schreiben diktiert haben sollen. Sicher hebt V. zu Recht heraus, dass das Phänomen, Evangelien als Offenbarungen des auferstandenen Christus zu schreiben, erklärungsbedürftig ist. Die Leser mögen überprüfen, ob Marcion der Urknall, d. h. dass das »Evangelium« eine Buchgestalt habe und seine Herkunft nach Paulus in Galater 1,1–12 durch direkte Offenbarung des auferstandenen Christus bestimmt sei, gewesen sein könne, der die Produktion von Evangelien in Gang gesetzt habe. V. (77–93) konstruiert das so: Marcion, als christlicher Lehrer seit ca. 140 n. Chr. in Rom, setzte sich an seinen Schreibtisch und produzierte das erste Evangelienbuch, »presumably based on documents and oral traditions available in Rome that fitted and supported Paul’s letters« (88). Er nannte sein Schriftencorpus aus Evangelium und Apostel das Neue Testament.
Das Konstrukt begründet V. mit drei Argumenten. Das erste Argument will ein dunkles Rätsel lösen; es gibt nämlich keine einleuchtende Antwort auf die Frage, warum in den christlichen Schriften bis einschließlich Justin nur Herrenworte und keine Erzählungen angeführt werden. Nach V. gab es die Erzählungen nicht, erst Marcion hat sie produziert. Das zweite Argument ist die Behauptung, dass Tertullians Nachweis, das Lukasevangelium sei in echter Gestalt älter als Marcions emendiertes »Evangelium«, einfach auf den Kopf zu stellen sei. Zu Adversus Marcionem IV 4,4–5 sagt V.: »The contrary is, of course, the basis for Tertullian’s argument.« (87) Ich kann dieses Dictum über Tertullians Argument nicht nachvollziehen. Sein drittes Argument zieht V. aus einer vermeintlichen Beobachtung. Er sieht Polykarp gegen Marcion schreiben (Polyk 7,1) und folgert mit Blick auf Justin und Rhodon, dass Marcion erst von Irenäus der Emendationen im Lukasevangelium angeklagt wurde.
V. erzählt, dass die judaisierenden Pseudo-Apostel, die das Evangelium des Paulus nach Marcions Überzeugung verfälscht hätten, konkurrierende christliche Lehrer in Rom waren. (88) Denn nachdem Marcion das Evangelium in Buchgestalt lanciert hatte, seien in Rom in kurzer Zeit ein vervollständigtes Evangelium unter dem Namen Lukas und die Apostelgeschichte und das Matthäusevangelium und das Markusevangelium und das Johannesevangelium geschaffen und produziert worden. »It would only be natural if the later canonical Gospels (and some of the letters that complemented Paul’s texts, and made it into the later canon) were created in close proximity to each other, in both time and location, most likely at Rome beginning in the 140s« (92). Papias von Hierapolis wird in das geistige Umfeld Marcions eingeordnet und antimarcionitisch gelesen (96–99); die Ignatiusbriefe werden spät datiert (104–107.152–155). Ich stimme jedoch V. darin zu, dass Marcion den Gedanken in die Christenheit einbrachte, das Evangelium müsse sich auf Schriftform mit einem verlässlichen Text stützen; mündliche Überlieferungen und die Kategorie Herrenworte seien dagegen unkontrollierbaren Umbildungen ausgesetzt. Allerdings kann ich aus den überlieferten Quellen zu Marcion nicht entscheiden, ob er auch den Gedanken über die Herkunft des Evangeliums aus einer direkten Offenbarung des auferstandenen Christus so klar formulierte, dass darauf reagiert werden konnte, ja musste.
Am Schluss finden sich 20 Seiten Bibliographie und mehrere Register. Das Sachregister ist mechanisch präsentiert. Das Buch hat mich veranlasst, alle Quellen zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert wiederum zu lesen – Respekt vor der Herausforderung.