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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

827–830

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Jacob, Christoph

Titel/Untertitel:

Das geistige Theater. Ästhetik und Moral bei Johannes Chrysostomus.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2010. 263 S. 23,6 x 16,0 cm. Geb. EUR 32,00. ISBN 978-3-402-12857-2.

Rezensent:

Andreas Heiser

J. hat sich mit der Studie 1995 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster habilitiert. Mit der Veröffentlichung löst Judith Krüger, die Frau des am 20.12.1996 verstorbenen Autors, ein Versprechen ein. Das verspätete Erscheinen erinnert an die Siebenschläfer von Ephesus, denn gerade die Chrysostomusforschung hat in diesen letzten 17 Jahren entscheidende Fortschritte gemacht. Da J. etliche dieser Ergebnisse regelrecht projektiert, darf die Arbeit (de mortuis nil nisi bene) am heutigen Forschungsstand gespiegelt werden. Seine These ist, dass die von Johannes Chrysostomus intendierte Prägung des öffentlichen Lebens durch den Entwurf einer Alternative zum weltlichen Schauspiel die Bestimmung des Verhältnisses von Schauen und Handeln, von Ästhetik und Moral, voraussetzt. Dazu beginnt J. mit einer biographischen Skizze (15–19), in der die »einsiedlerische Abgeschiedenheit« (16) des Chrysostomus seit Illert 2000 infrage steht.
In Kapitel I (27–80) führt J. am Sprachgebrauch von θέατρον bei Chrysostomus vor, dass die kritische Darstellung des Theaters nicht auf das konkrete Bühnengeschehen ausgerichtet ist, sondern vielmehr auf die Rezeption der Zuschauer. Erhellt wird, wie szenisches und agonistisches Vokabular metaphorisch auf geistliche Zusam­menhänge deutet (die meisten Metaphern bereits bei Degen 1921; Sawhill 1928; jetzt Koch 2007). Neben den direkt mit dem Theater verbundenen semantischen Spektren stellt J. zukunftsweisend die öf­fentliche Wirkung von Verhalten am Begriff θέατρον heraus (59–80). Die verschiedenen Grade von Öffentlichkeit, die ein Handeln ἐν μέσῳ (60) habe, werden an Jesus und den Aposteln, der Kirche, Gemeinde und Gottesdienst und dem Handeln einzelner Menschen exemplifiziert (62–73). Soler 2006 und Krautheim (www.topoi.org/ person/kraut-heim-frauke/) richten den Fokus auf das öffentliche Handeln bei der Inszenierung des Märtyererkultes. Dass auch das θέατρον der himmlischen Welt (77–80) eine handlungskorrigierende Wirkung hat, wird Bosinis 2008 über das ὄμμα θεοῦ für die politische Philosophie zeigen. Ein gelegentlicher Blick auf die Texte anderer Antiochener wäre bei der Darstellung des Sprachgebrauchs von θέατρον wünschenswert gewesen. Ferner hätte der Gesamtentwurf einer Ästhetik auf ein breiteres begriffliches Fundament gestellt werden müssen. Beispielswiese fungiert der Imperativ θέα zur Inszenierung biblischer Personen.
In Kapitel II (81–142) widmet sich J. der Rhetorik und Wirklichkeit der Theaterwelt, für die Chrysostomus »kein guter Gewährsmann« sei (87), denn er entwerfe sein Theaterbild von der »Erwartungshaltung der Zuschauer« her (90). Somit richtet sich der Protest gegen die Schauspieler und die – vorgebliche oder tatsächliche– Lebensweise ihrer Zuschauer (91). Dabei betont J. den »Stellenwert der optischen Wahrnehmung« (101). Ob die von Kindermann (1979) für das Theater beobachtete Wende vom »Hören« in republikanischer Zeit zum »Sehen« in spätrömischer Zeit auch für die Ästhetik des Chrysostomus gilt, bezweifle ich jedoch, da die Ausbildung von Moralvorstellungen wenigstens in educ. lib. als mul­tisensualer Vorgang gefasst wird (aus der diachronen Analyse gibt J. für Origenes selbst Beispiele: 153). Evident ist der Kernpunkt der Theaterkritik. Im Akt des Anschauens vollziehen die Zuschauer das ihnen vor Augen Geführte (102), so dass mit Platon (R. 10, 606c) eine »Wirkautomatik« in Gang gesetzt werde. Auch die Kritik an paganer Festpraxis richte sich nicht auf deren religiösen Gehalt, sondern auf die ethisch bedenklichen Ausschweifungen (112). Dass der Macht religiösen Brauchtums bei Chrysostomus mit »Idealvorstellungen zur Gestaltung christlicher Feiertage« (114.125) begegnet werde, wird Soler 2006 als Strategie der Flaviangemeinde herausstellen, die die Märtyrerfeste als öffentliche Substitution paganer und jüdischer Feste etabliert (120.134–136). Gegenüber der bei Theateraufführungen und Pferderennen erfahrenen ἡδονή verschaffe der Gottesdienst legitime Entspannung, Vergnügen und Unterhaltung (132–135). Deutlich wird, wie das Bedürfnis, Feste zu feiern, mit den asketischen Idealvorstellungen des Chrysostomus kollidiert und nicht ohne Beibehaltung traditioneller Elemente der Festkultur in christliche Bahnen gelenkt werden kann (141).
In Kapitel III (143–200) verleiht die knappe Darstellung antiker christlicher Interpretationen der zweiten Antithese der Bergpredigt (Mt 5,28) dem Verhältnis von Ästhetik und Moral bei Chrysostomus (154–165) Tiefenschärfe, denn er macht die bei anderen Exegeten festgestellte Verallgemeinerung von Sexualmoral auf allgemeine christliche Ethik der Gesinnung wieder rückgängig (161). Leider beschränkt sich die diachrone Darstellung auf die Apolo­geten, Clemens und Origenes, hier wäre ein Vergleich mit den An­-tiochenern oder sogar Ephraem dem Syrer erhellend. Bleibendes Verdienst J.s ist es, die Moral des Schauens bei Chrysostomus dargestellt zu haben. Schauen bewirkt Affekte, die dem Willen des Schau­enden nicht mehr zugänglich sind. J. spricht vom »Wirkautomatismus«, der keine »ästhetische Distanz« (nach Blumenberg) (163) zulasse. Damit sei die Wahrnehmung selbst in einem »er­wei­terten Handlungsbegriff« moralisch bewertet, der auf die Formel gebracht »Schauen bedeutet … schon Tun« (163) lautet. Weil die Moral vor der αἴσθησις ansetze, werde nicht erst das Schauen, sondern bereits die »voyeuristische Absicht« (164) der Zuschauer verurteilt.
Wenn J. jedoch die Prävalenz der Gesinnung vor dem Tun am Sakramentsverständnis exemplifiziert, ist kaum nachvollziehbar, dass Chrysostomus mehr Wert auf das Verstehen des Sakraments als auf den Vollzug lege und »die Symbolkraft sakramentaler Handlungen« (169) geringschätze. M. E. fördert Chrysostomus das Verstehen vor dem Vollzug des Sakraments, weil er als Priester in An­tiochien ausschließlich praebaptismale Katechesen halten darf, die schlechterdings nicht auf den Vollzug der Taufe rückgreifen können (die zitierte Catech. 3/2 wurde gegen Ende der Quadragesima zwischen 389 und 397 gehalten; FC 6/1, 48 Kaczynski). Die antiochenische Taufpraxis beschreibt de Roten 2005.
Nun soll die αἴσθησις vor allem des Priesters und der Mönche (173) im »geistigen Theater« zur Nachahmung anstecken (171–200). Die Inszenierung des asketischen Lebens am Beispiel der Syneisakten im Spiegel paganer Theaterpolemik (187–192) wird Leyerle 2001 aufnehmen. Die biblischen Heiligen werden von J. nur genannt (174 f.), Paulus als »Paradigma christlicher Existenz« (186) kurz erwähnt. Die Überlegung, wie aus gesprochenen Homilien über das Hören »Bilder der Heiligen« entstehen, wird noch nicht angestellt. Dazu bemüht J. einzig die Vokabel »vor Augen stellen« (ebd.). Erst Mitchell 2000 und Heiser 2012 werden die Strategien der Inszenierung des Paulus herausarbeiten, Brottier 1996 die Hiobs. Die Ästhetik im »geistigen Theater« ist somit in ihrer Unterschiedlichkeit von der Ästhetik im Profantheater nicht tiefgreifend erfasst.
Auch die Substitution der αἴσθησις der Mönche als lebendige Vorbilder in Antiochien durch »literarische Lehrer« (194 f.) in Konstantinopel trifft nicht zu, wenn man die reiche Inszenierung von »Vorbildern aus der Vergangenheit« (195) in der antiochenischen Wirksamkeit anschaut (Heiser 2012). Das Urteil J.s verwundert, weil Mitchell 1995 im Literaturverzeichnis steht (230), aber nicht aus­-gewertet wird (176, Anm. 32). Die Unterscheidung zwischen den lebenden Asketen und biblischen Heiligen und damit einhergehend zwischen »wortloser Verkündigung« (177) und Verkündigung mit Worten ist künstlich, denn J. übersieht, dass die biblischen Heiligen wie Paulus nach der Erscheinungsform des spätantiken Asketentums dargestellt werden. Was die Chrysostomusschriften angeht, so sollte für die Paulusexegesen (inklusive Hebräerbrief) unbedingt statt Migne die Edition von Field (Oxford 1839–1862) verwendet werden. Die serm. in Gen. sind von Brottier als SC 433 1998 ediert worden. Seit 2007 liegt die Grabrede des Ps.-Martyrius von Antiochien (95) als Quaderni della rivista di Bizantinistica 12 von Wallraff/Rizzi vor.
Der Wert der Arbeit besteht darin, bereits 1995 die Akzente auf Themen der Chrysostomusforschung gesetzt zu haben, die zu fruchtbaren Forschungsfeldern wurden. Besonders die wirkungsästhetischen Aspekte bleiben von Bedeutung, denn sie liegen der Kritik am Theater zugrunde und erklären die hohen Anforderungen an die Hauptdarsteller im »geistigen Theater«. Was Brottier 2005 bei der Vermittlung des Ideals vom engelsgleichen Leben beschreibt, hält J. bereits fest. Die ästhetische Dimension und die Kriterien der moralischen Bewertung im »pagangen« und »geistigen« Theater differieren so stark, dass die Diskrepanz zwischen der Strahlkraft chrysostomischer Ideale und der spätantiken Realität kaum überbrückt werden kann.
Einige Korrekturhinweise sind bei Bedarf beim Rezensenten abzufragen.