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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

823–824

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kunter, Katharina

Titel/Untertitel:

500 Jahre Protestantismus. Eine Reise von den Anfängen bis in die Gegenwart.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. 240 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn. 29,0 x 22,0 cm. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-579-08097-0.

Rezensent:

Uwe Wolff

Auch auf dem Buchmarkt wirft das große Reformationsjubiläum seine Schatten voraus. Mit ihrem Buch »500 Jahre Protestantismus« stellt sich Katharina Kunter der enormen Herausforderung, die vielfältige Weltgeschichte des Protestantismus von ihren spätmittelalterlichen Voraussetzungen über Luthers, Zwinglis, Calvins und John Knox’ Reformation, über Anglikaner, Methodisten, Baptisten bis zu der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé und der feministischen Theologie in einer Gesamtdarstellung zu komprimieren. Derartig weit gefasste Aufgaben werden heutzutage allenfalls von »Kompetenzteams« bewältigt. Die junge Historikerin für Neue und Neuste Geschichte zeigt, dass ein einzelner Wissenschaftler mit hoher fachlicher Substanz und didaktischer Begabung auch heute noch den ganzen Horizont seines Faches ausleuchten kann. K. ist eine hinreißende Geschichte des Protes­tantismus gelungen. Das Buch ist aus einem Guss: all­gemeinverständlich geschrieben, ohne sich dabei in gefälligen sprachlichen Wendungen dem Zeitgeist anzubiedern, reich und anschaulich bebildert, dabei zugleich wissenschaftlich zuverlässig. K. erzählt, ohne sich im Detail zu verlieren, sie entfaltet die große Vielfalt protestantischer Strömungen und akzentuiert dabei im­mer das Wesentliche. Entstanden ist ein Bildband, der weit über den 31. Oktober 2017 hinaus eine zuverlässige Einführung in die Geschichte und die Folgen der Reformation bleiben wird.
K. lehrt an der Ruhr-Universität Bochum und ist Mitglied der DFG-Forschergruppe »Religion und Moderne«. Ausgehend von Luthers Rechtfertigungslehre (solus christus, sola fide, sola scriptura) und ihrer fundamentalen Wirkung auf Sprache, Kultur, Musik und Pädagogik entfaltet sie den Geist des Protestantismus als Wagnis, die Einheit in der Vielzahl der Stimmen zu leben. Vielfalt, Individualität, Freiheit des Einzelnen, Priestertum aller Gläubigen, Verantwortungsgefühl vor Gott, gesellschaftliches Engagement, aber auch die Anfälligkeit für den Zeitgeist sind Leitlinien der Darstellung. Der Protestantismus hatte viele Tugenden. Das Aushalten von Gegensätzen und Kontroversen sowie die Kraft der Erneuerung aus den Wurzeln stehen für K. dabei an erster Stelle. Diese Vitalität wird auch durch eine Bebilderung unterstrichen, die an keiner Stelle bloßer Buchschmuck ist. Die ersten beiden ganzseitigen Bilder zeigen das Lutherdenkmal vor der zerstörten und der wiedererstandenen Frauenkirche in Dresden. Bilder haben eine suggestive Kraft. Das gilt besonders für jene Historiengemälde und kolorierten Holzschnitte des 19. Jh.s, die tief im kollektiven Ge­dächtnis verankert sind. Anton von Werners (1843–1915) »Luther auf dem Reichstag zu Worms« wurde als Titelbild gewählt.
Über Ferdinand Pauwels (1830–1904) Gemälde »Martin Luthers Thesenanschlag« (1872) kam es zwischen K. und der Redaktion zu einer bemerkenswerten Kontroverse, die im Kontext des Reformationsjubiläums auch an anderen Stellen geführt werden wird. Das Bild zeigt, wie Luther mit einem Hammer ein Exemplar seiner 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlägt. Im laufenden Text heißt es dazu, der Thesenanschlag sei »in der Forschung umstritten«. In der Bildunterschrift spricht K. von dem »vermutlich nie stattgefundenen Thesenanschlag«. Noch deutlicher wird sie in einem Gespräch über ihr Buch mit Deutschlandradio Kultur (28. August 2011). Hier erklärt sie den Thesenanschlag für eine Konstruktion des 19. Jh.s. Aus diesem Grund habe sie sich gegen den Wunsch des Lektorats gewehrt, eine ganzseitige Wiedergabe des Bildes zu drucken. Doch auch die kleine Reproduktion führt vor die grundlegende Frage aller Kirchengeschichtsschreibung, wie eine historisch-kritische Wissenschaft mit jenen Legenden umgehen will und muss, in denen sich Gestalten und Ereignisse verdichtet haben. Der Verweis auf ihre Ungeschichtlichkeit widerlegt nicht ihren Wahrheitsgehalt. Denn wie die Symbolhandlungen, so besitzt auch die Legende eine eigene Sprache. Diese wieder lesbar zu machen, wird zu den Aufgaben kommender Feierlichkeiten gehören. Dass der Thesenanschlag niemals stattgefunden habe, war eine These (1961) des Münsteraner Kirchenhistorikers und katholischen Lutherforsches Erwin Iserloh (1915–1996). Vielleicht wird nach dem Vorbild der Arbeit von K. in ähnlich anschaulicher Weise die Geschichte der katholischen Reaktion auf 500 Jahre Protestantismus bis zum großen Reformationsjubiläum geschrieben werden.