Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

821–823

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wardle, Timothy

Titel/Untertitel:

The Jerusalem Temple and Early Christian Identity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. X, 288 S. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 291. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-150568-3.

Rezensent:

Jostein Ådna

Diese Monographie stellt die leicht revidierte und ergänzte Fassung der Dissertation von Timothy Wardle aus dem Jahr 2008 dar. Darin erörtert er, wie es im Urchristentum bereits kurz nach Ostern zur Vorstellung von der christlichen Gemeinschaft bzw. der Kirche als Tempel kam und wie die Beziehung der frühen Christen auf der Grundlage dieser Identitätsbestimmung zum Tempel und der Hohepriesterschaft in Jerusalem war.
Flankiert von kurzen Einleitungs- und Abschlusskapiteln (Ka­-pitel 1, »Introduction«, 1–12; Kapitel 6, »Concluding Reflections and Implications«, 227–233), verteilt sich die inhaltliche Darlegung auf vier Kapitel. Kapitel 2, »The Centrality of the Jerusalem Temple and High Priesthood in Second Temple Judaism«, 13–45, präsentiert die bis zum 1. Jh. n. Chr. immer weiter zunehmende Bedeutung des Jerusalemer Tempels und die entsprechende Position der amtierenden Hohepriesterschaft. Die wachsende religiöse, wirtschaftliche und sozio-politische Macht des Tempels wurde jedoch von manchen frühjüdischen Kreisen kritisch begleitet. In Kapitel 3, »Reactions to the Influence of the Jerusalem Temple and Priesthood«, 46–97, führt W. die wichtigsten Beispiele solcher Kritik am Tempel und noch mehr an der Hohepriesterschaft vom 6. Jh. v. Chr. bis zum Ende des 1. Jh.s n. Chr. vor. Nicht alle begnügten sich damit, die Entwicklungen im Tempel und die Amtsführung der Hohenpriester kritisch zu begleiten, ohne damit zu brechen. Kapitel 4, »The Emergence of Alternative Temples«, 98–165, beschäftigt sich mit drei Beispielen radikaler Ablehnung, die zur Gründung der alternativen Tempel auf dem Berge Garizim, im ägyptischen Leontopolis und in Qumran am Toten Meer führte. Während es im Falle des samaritanischen Heiligtums auf dem Garizim und des oniadischen in Leontopolis um physische Tempelgebäude ging, bestand die Alternative in Qumran darin, für sich diese Position als Ersatz des verunreinigten Jerusalemer Tempels zu beanspruchen. In Kapitel 5, »The Jerusalem Temple and Early Christian Identity«, 166–226, kommt W., nachdem er zuerst Jesu Haltung zum Tempel und der Hohenpriesterschaft sowie die Praxis seiner frühesten Nachfolger gegenüber dem Tempel erörtert hat, zuletzt auf das neutestamentlich (sowie patristisch) breit be­zeugte Theologumenon der christlichen Gemeinschaft als Tempel zu sprechen. Während es bei der entsprechenden metaphorisch-personalen Vorstellung in Qumran um eine notgedrungene Interimsordnung gehe – bis in Jerusalem ein neuer Tempel mit gottgefälligem Kultbetrieb wieder errichtet sein werde –, beanspruchen die Christen mit ihrer Tempelvorstellung eine permanente Ablösung des Jerusalemer Heiligtums.
W. hat eine bis ins Detail historisch überwiegend verlässliche Untersuchung vorgelegt, in der er eine kohärente und für den Leser leicht zu verfolgende Argumentation vorführt. Die beinahe 30 Seiten umfassende Bibliographie (235–263) zeugt von ausführlicher Kenntnisnahme und Berücksichtigung relevanter Forschungsliteratur. Das Buch ist dankenswerterweise mit Stellen-, Autoren- und Sachregister ausgestattet (265–288).
Es verwundert, dass der Titel des ganzen Buches mit dem Titel des fünften Kapitels (von insgesamt sechs) wortgleich ist: »The Jerusalem Temple and Early Christian Identity«. Vor diesem Hin­tergrund fragt sich der Leser beim Einstieg in die Lektüre un­weigerlich, wozu die Kapitel 2 bis 4, die immerhin zwei Drittel des Gesamttextes umfassen, überhaupt dienen sollen. An sich sind diese Kapitel im Blick auf ihre Thematik informativ. Es sind jedoch darin kaum eigene Forschungsergebnisse W.s zu verzeichnen. Sie lassen sich darum am ehesten lesen als eine auf der einschlägigen Forschungsliteratur beruhende willkommene aktuelle Darstellung der Geschichte des zweiten Tempels, der diesen Tempel und dessen Priesterschaft begleitenden Kritik sowie der Geschichte des samaritanischen Tempels, des Tempels in Leontopolis und der Qumrangemeinschaft als Tempel.
Der eigenständige Ansatz W.s kommt im fünften und sechsten Kapitel zum Vorschein. W. meint als entscheidenden Impuls bei den frühen Christen zur Inanspruchnahme der Tempelvorstellung deren scharfe Kritik an den Hohenpriestern am Jerusalemer Tempel zu erkennen, die sowohl für die Tötung Jesu verantwortlich gewesen waren als auch die treibende Kraft in der zum Teil gewaltsamen Bekämpfung der Christen in Jerusalem darstellten. Obwohl, wie in der früheren Forschung bereits herausgestellt, der Bezug der Tempelvorstellung auf die Kirche zentralen theologischen Anliegen wie etwa der Präsenz des Geistes Gottes in der christlichen Gemeinschaft, der Aufnahme von Heiden darin als gleichberechtigt mit Juden sowie der Verpflichtung auf Heiligkeit Ausdruck zu verleihen vermag, haben derartige Anliegen nicht von selbst die Übernahme der Tempelvorstellung hervorgerufen. Es sei vielmehr die polemische Auseinandersetzung mit den Hohenpriestern, die – in Entsprechung zu den Vorgängen bei der Bildung früherer alternativer Tempel (s. Kapitel 4) – die frühen Christen zu diesem Schritt mit großer Bedeutung für ihre soziale Identität bewegte: »[T]he establishment of an alternative temple to the one in Jerusalem was likely a culturally identifiable method of registering dissent against the Jerusalem priesthood.« (230) Von dieser These her gewinnen auch die Kapitel 2 bis 4, die zuerst aus dem inhaltlichen Gesamtrahmen zu fallen drohten (s. o.), ihre Legitimität, denn W. kann seine These über den Ursprung der urchristlichen Tempelvorstellung nur vor dem Hintergrund der Geschichte des zweiten Tempels in Jerusalem sowie der Kritik gegen diesen Tempel und die darin amtierenden Hohenpriester entfalten.
Trotz der Geschlossenheit und argumentativen Kohärenz seiner Darlegung vermag W. kaum zu überzeugen. M. E. unterschätzt er sowohl bei Jesus als auch bei den frühen Christen christologische, soteriologische und eschatologische Beweggründe für die Auseinandersetzung mit dem Tempel in Jerusalem, die bei der Übernahme der Tempelvorstellung schwerer ins Gewicht fallen als eine etwaige Unzufriedenheit mit der Gier und gewissen Praktiken der Hohenpriester. Bei der Fülle der herangezogenen Literatur (s. o.) sind trotzdem einige bemerkenswerte Lücken zu verzeichnen. W. wagt die falsche Behauptung, »since … 1971, there has been no recent comprehensive study of the transfer of temple terminology and ideology to the Christian community« (6), und übersieht dabei wichtige Studien wie G. Faßbeck, Der Tempel der Christen (1999), und A. L. A. Hogeterp, Paul and God’s Temple (2006). Auch in der Behandlung von Teilfragen macht sich die Nichtberücksichtigung zentraler Studien negativ bemerkbar (Beispiel: die Erörterung der Worte Jesu über die Zerstörung des Tempels [182–185] ohne Bezug auf K. Paesler, Das Tempelwort Jesu [1999]).
Unter den zu verzeichnenden Schreibfehlern seien die falsche Datierung der Gründung des samaritanischen Tempels im Ab­schlusskapitel (228) und Samareias anstelle von Samareis als Terminus neben Samareitai für die Samaritaner bei Josephus (102) genannt. Insgesamt zeichnet sich die Studie jedoch durch gute sprachliche Gestaltung und nur ganz wenige Fehler dieser Art aus.