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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

819–821

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stettler, Christian

Titel/Untertitel:

Das letzte Gericht. Studien zur Endgerichtserwartung von den Schriftpropheten bis Jesus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XV, 321 S. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 299. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-150512-6.

Rezensent:

Werner Zager

Mit dieser Studie, die ursprünglich als Bestandteil einer geplanten Habilitationsschrift zur paulinischen Lehre vom Endgericht ge­dacht war, möchte Christian Stettler einen Überblick über die Entwicklung der Endgerichtserwartung von den vorexilischen Propheten bis Jesus geben. Dabei verfolgt er zwei Ziele: zum einen »die tiefe Verwurzelung Jesu im apokalyptischen Denken« – »jedenfalls was seine eschatologischen Erwartungen anbelangt« – und zum an­deren »Kontinuitäten in der Gerichtsverkündigung von den Schriftpropheten über die Apokalyptik bis hin ins Neue Testament« aufzuzeigen (3).
Bereits diese doppelte Zielsetzung ist ein erster Hinweis darauf, dass die vier vorgelegten Studien zu Altem Testament, Frühjudentum, Johannes dem Täufer und Jesus im Rahmen einer Biblischen Theologie durchgeführt sind, zu deren Vertretern die Tübinger Exegeten Hartmut Gese, Peter Stuhlmacher (S.s Doktorvater), Otto Betz und Martin Hengel zählen. Das hindert S. freilich nicht, die einschlägige Forschung, insbesondere die englischsprachige, in breitem Umfang zu rezipieren. Allerdings geschieht dies meist nur in eklektischer Weise, nämlich wenn deren Sichtweise der eigenen entspricht. So vermisst man eine eingehende argumentative Auseinandersetzung mit davon abweichenden Forschungsansätzen und -ergebnissen.
Nach einer kurzen Einleitung zum Stand der Forschung (1–4) behandelt S. recht ausführlich zunächst »Das Gericht JHWHs nach dem Alten Testament« (5–111) und anschließend »Die Fortführung und Weiterentwicklung der alttestamentlichen Tradition im außerkanonischen frühjüdischen Schrifttum« (112–184). Begründet wird dieses Vorgehen nicht nur mit dem Fehlen einer neueren Monographie zur Endgerichtserwartung im Alten Testament, sondern auch damit, dass die neutestamentliche Wissenschaft Gottes Gericht meist als bloßes »Strafgericht« verstehe und dessen positives Ziel, »Gottes gerechte Ordnung durchzusetzen« (5), verkenne (als Ausnahme wird meine Habilitationsschrift angeführt: Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu, BZNW 82, 1996). Leider hat S. nicht die postum erschienene Untersuchung Albert Schweitzers berücksichtigt: Reich Gottes und Christentum, hrsg. v. Ulrich Luz, Ulrich Neuenschwander (†) u. Johann Zürcher (Werke aus dem Nachlass), 1995.
Was das menschliche Richten betrifft, so begegnen nach S. in der alttestamentlichen Überlieferung zwei Konzeptionen: der Rechtsstreit als direkte Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien und das Gerichtsverfahren, bei dem ein Richter entscheidet. Wenn nun beim göttlichen Richten die beiden Konzeptionen nicht mehr klar unterschieden werden, führt S. dies darauf zurück, dass JHWH beim Rechtsstreit mit Israel immer zugleich betroffene Partei und Richter sei (34). S. zufolge fußt die alttestamentliche Gerichtserwartung auf dem altorientalischen Weltordnungsdenken: »Als König setzt JHWH seine Gerechtigkeit, die heilvolle Weltordnung, richtend durch; in dieser Weltordnung bleibt kein menschliches Verhalten ohne Folgen, alles Tun wird von JHWH indirekt durch den von ihm gestifteten Tat-Folge-Zusammenhang und direkt durch sein richterliches Eingreifen vergolten« (108). Die Entwicklung der Gerichtsverkündigung von der vorexilischen Prophetie bis zur Apokalyptik sieht S. durch folgende drei Tendenzen be­stimmt: 1. Universalisierung (Ge­richt und Gottesherrschaft gelten allen Völkern und der gesamten Schöpfung), bedingt durch die Krise des weisheitlichen Weltordnungsdenkens, 2. Eschatologisierung und 3. Individualisierung (Ver­wirklichung von JHWHs Weltordnung im neuen Äon bzw. nach dem Tod des einzelnen Menschen) (67.109).
Die frühjüdischen Schriften, die ein Endgericht erwarten, beurteilt S. als Zeugnisse apokalyptischer Theologie der vormakkabäischen Chasidim, die von den Pharisäern und den Essenern nach dem Auseinanderbrechen der antihellenistischen Koalition weitertradiert worden sei (138). Ohne hier auf die mit der Endgerichtserwartung verbundenen Vorstellungen eingehen zu können, sei aber S.s zutreffende Beobachtung hervorgehoben, dass im frühjüdischen Schrifttum die »Spannung zwischen Erwählung, Toragehorsam und Gottes Erbarmen« nicht aufgelöst werde (184), womit er gegenüber der Bundesnomismus-These von Ed Parish Sanders kritisch Stellung bezieht.
Mag auch die heutige alttestamentliche Wissenschaft mit ihrer Tendenz zu Spätdatierungen die eine oder andere Korrektur an S.s Bild der biblischen Traditionsgeschichte vornehmen, so darf doch seine Darstellung der alttestamentlichen und frühjüdischen Ge­richtserwartung als eine gründliche Zusammenfassung der Entwicklungen, Vorstellungen und Motive gelten.
Als problematisch erweisen sich dagegen aus der Perspektive historisch-kritischer Exegese die beiden Kapitel über Johannes den Täufer (185–197) und Jesus (198–268). Die klassischen exegetischen Methoden finden hier kaum Anwendung. Es herrscht das Bestreben vor, möglichst ein Maximum der neutestamentlichen Überlieferung von Johannes dem Täufer und Jesus für historisch zuverlässig zu erklären. Welche Authentizitätskriterien er selbst zugrunde legt, darüber gibt S. keine Auskunft. Angeführt werden fast nur Äußerungen von Exegeten, die für die Authentizität des jeweiligen Logions eintreten, ohne die Argumente für die gegenteilige Auffassung zu benennen und sorgfältig zu prüfen. So bezeichnet er etwa Mk 14,61 f. par. als ein »höchst wahrscheinlich in seinen Grundzügen echte[s] Logion Jesu« (222), ohne auch nur in Ansätzen die Problematik der Rückführung der Menschensohn-Worte auf den historischen Jesus erkennen zu lassen.
Was folgt daraus für S.s Darstellung der Gerichtsverkündigung des Täufers und Jesu? Johannes erkennt in Jesus den von ihm angekündigten »Stärkeren«, der mit heiligem Geist und Feuer tauft. Wegen des ausbleibenden Endgerichts stellt er dies dann während seiner Gefangenschaft in Frage (194–197). Und Jesus selbst sieht sich als den »Feuer- und Geisttäufer, der Gericht bringt und die Gottesherrschaft aufrichtet« (198). Aber Jesus begreift sich nicht nur als den »Stärkeren«, als Menschensohn, Messias und Gottessohn, sondern auch als den Gottesknecht, »der die Sünden der Vielen trägt und so die endzeitliche Sühne schafft, die allein den Weg in die Gottesherrschaft öffnet« (268). – Man fragt sich hier: Geschahen Jesu Vergebungszuspruch und seine heilende Zuwendung nur unter Vorbehalt? – S. geht noch weiter, wenn er Jesus seine Erhöhung nach seiner Hinrichtung und seine Rückkehr als Weltrichter nach einer Zwischenzeit von unbestimmter Dauer erwarten lässt, wobei jene für die Verkündigung des Evangeliums von der Gottesherrschaft an Israel und alle Völker bestimmt sein soll (268). Damit wird in ungeschichtlicher Weise Jesus zum Verkünder des urchristlichen Kerygmas gemacht.
Zwar stimme ich mit S. in der grundsätzlichen Verhältnisbestimmung von Gerichts- und Basileiaverkündigung Jesu überein, gemäß der die sich gegenwärtig realisierende Gottesherrschaft durch Gottes Gerichtshandeln ermöglicht werde, während deren endgültige Durchsetzung dem bevorstehenden Endgericht vorbehalten sei. Aber im Täufer- und Jesus-Teil seiner Arbeit kann ich keine wirkliche Weiterführung der Forschung erblicken.
Eine thesenartige Zusammenfassung der Ergebnisse (269–272) sowie Literaturverzeichnis, Stellen-, Autoren- und Sachregister (273–321) beschließen den Band.