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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

816–818

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Heid, Stefan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Petrus und Paulus in Rom. Eine interdisziplinäre Debatte. Hrsg. in Zusammenarbeit m. R. von Haehling, V. M. Strocka u. M. Vielberg.

Verlag:

Freiburg/Basel/Wien: Herder 2011. 551 S. m. Abb. 24,0 x 17,0 cm. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-451-30705-8.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

In diesem Band sind 23 Vorträge zweier Tagungen der Görres-Gesellschaft in Rom und Freiburg i. Br. aus dem Jahr 2010 vereinigt. Bereits vor diesen Tagungen haben drei Vortragende er­wei­terte Fassungen ihrer Beiträge als eine Vorveröffentlichung publiziert, die allerdings bald vergriffen war (Christian Gnilka, Stefan Heid, Rainer Riesner, Blutzeuge: Tod und Grab des Petrus in Rom, Regensburg 2010). Ein weiterer Beiträger, Otto Zwierlein, hat sich in jüngster Vergangenheit bereits durch eine große Publikation und weitere Beiträge (z. B. GFA 13, 2010, 87–157) zu den literarischen Zeugnissen eines Petrusaufenthaltes kritisch geäußert (vgl. zur 1. Aufl. seines großen Werks ›Petrus in Rom: Die literarischen Zeugnisse‹ die Besprechung von Jan Dochhorn in ThLZ 136 [2011], 781–783; mittlerweile liegt bereits eine ergänzte 2. Aufl. 2010 vor) und sich um eine neue Edition der griechischen Textüberlieferung des Martyriums Petri und des Marty­riums Pauli verdient gemacht. Die zugrunde liegende Frage, ob ein Aufenthalt der beiden Apostel in Rom historisch wahrscheinlich ist, hat gegenwärtig erneut breite interdisziplinäre Aufmerksamkeit auf sich gezogen, nachdem sie im Jahr 1936 mit der Verwerfung der These eines Petrusaufenthaltes in Rom durch den Kirchengeschichtler Karl Heussi sowie in dann weiteren, insgesamt 17 Publikationen aus dessen Hand einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Über die Ge­schichte des wissenschaftlichen Streits informiert einleitend Ernst Dassmann vorzüglich (13–31).
Allerdings deckt der Titel des Buches nicht wirklich seinen In­halt ab, da sowohl die Görres-Gesellschaft, angeregt durch Zwierleins Inversion, ausschließlich das Thema ›Petrus in Rom‹ im Programm der Tagung führte (349) und sich überdies kein Beitrag direkt weder mit dem in Apg 27 f. erwähnten Paulusaufenthalt in Rom und der frühchristlichen Bezeugung einer ersten bzw. zweiten Gefangenschaft des Paulus in Rom noch mit der jüngeren Debatte um den Prozess und das Ende des Paulus befasst (am ehes­ten neben gelegentlichen Einstreuungen noch Riesner [153–179] sowie Brandenburg zum Paulusgrab an der Via Ostiense [366–380]).
Auf den beiden Tagungen haben Althistoriker (Ameling, Ehlen, von Haehling, Schmitt), Neutestamentler (Baum, Riesner), klas­-sische Philologen (Blümer, Gnilka, Lebek, Zwierlein), klassische Ar­chäologen (Brandenburg, Mielsch), ein Mediävist (Burkard), Patro­-logen (Dassmann, Durst), eine christliche Archäologin und byzan­-tinische Kunstgeschichtlerin (Dresken-Weiland), ein christlicher Archäologe (Weber), eine Epigraphikerin (Papi), ein Liturgiegeschichtler und Hagiograph (Heid), ein Literaturgeschichtler der altchristlichen Literatur (Lona), ein Didaktiker für Geschichte (Sproll) und ein Latinist (Vielberg) vorgetragen. Der schon in dieser Besetzung zum Ausdruck kommende Wille eines interdisziplinären Zugangs zu einem alten Thema stellt einen wesentlichen Fortschritt der Debatte dar. Freilich ist die gegenseitige Wahrnehmung der Disziplinen und die Einordnung ihrer jeweiligen Forschungsergebnisse auch ein Problem. Die literarische frühchristliche und altkirchliche Quellenlage (vor allem Riesner, Zwierlein und Ameling) und der archäologische Befund im Zusammenhang eines Petrusgrabs in Rom (vor allem Weber, Brandenburg, Mielsch) werden in mehreren Beiträgen erneut vorgestellt. Ob es glücklich war, ausschließlich Neutestamentler einzuladen, die eine radikale Frühdatierung der Apg und Abfassung durch einen Paulus-Begleiter für bedenkenswert halten (Riesner, 154–157) und einer pseud­epigraphen Abfassung des 1. Petrusbriefes kritisch gegenüberstehen (Baum, 218 f.), muss angesichts der unkritischen Übernahme dieser Positionen in anderen Voten angefragt werden, was den Ge­halt der Beiträge beider Autoren jedoch keineswegs schmälern soll. Das Forschungsobjekt erschöpft sich gegenwärtig nicht mehr ausschließlich in Quellen- und Überlieferungskritik, sondern muss auch Erinnerungskultur und Rezeptionskritik einbeziehen (Ameling, 469). Seit der sog. 4. Phase der Petrus-Rom-Debatte, die maßgeblich von Hans Lietzmann angestoßen wurde, allerdings bereits um 1900 begann und bis heute währt, werden zunehmend archäologische Forschungen aufgenommen (Burkard, 66).
Nach der Lektüre des Bandes sind gewisse Einschätzungen, die in der Literatur immer wieder transportiert werden, unsicher geworden, was wiederum auf das zentrale Thema des Bandes unmittelbare Rückwirkungen hat. Ist die Verknüpfung der Brandkatastrophe in Rom unter Nero im Jahr 64 und die damit einhergehende Christenverfolgung wirklich Resultat einer bestimmten literarischen Darstellung ohne historischen Anhaltspunkt (Schmitt, 518)? Zwei Beiträge erkennen 1Petr 5,13 wegen der Ortsnamenmetapher Babylon als früheste Nachricht über einen Romaufenthalt des Petrus an (Baum, 219; Durst, 438), da diese Chiffre nur Sinn mache, wenn unbeschadet einer pseudepigraphen Abfassung des Briefes »der historische Petrus in Rom ansässig gewesen war bzw. sich dort aufgehalten hatte« (Durst, 442 f.). Vor Beginn der beiden Tagungen erkannte Dassmann ein Patt im Streit der Meinungen zur Historizität des Petrus­aufenthaltes in Rom (31). Haben sich die Gewichte jetzt verschoben?
Aus archäologischer Sicht bekräftigt Weber die hohe Wahrscheinlichkeit der Historizität des römischen Martyriums: Der »schließlich in ein Grabgebäude umgewandelte und mit Mosaik besonders ausgestattete Grabhof P mit seiner Petrusmemorie be­legt die von der römischen Gemeinde an diesem Ort bewahrte Tradition, die schließlich Konstantin zu seinem großen Kirchenbau veranlasste« (113). Ebenso Brandenburg: »Das Denkmal stellt damit die für unsere Vorstellung als unvollständig, unzureichend, ja ge­legentlich wie zufällig erscheinenden Angaben der literarischen Quellen zur Präsenz Petri in Rom in einen geschlossenen Zu­sam­menhang und fügt sie zu einem kohärenten und schlüssigen Bild der Überlieferung zusammen, in dem der Aufenthalt Petri in Rom, sein Martyrium am Vatikan und seine Bestattung in der Nähe der Stätte seines Martyriums ihren Platz finden.« (366) Heid spricht sich für eine Revision der traditionellen Darstellung der Geschichte der Märtyrerverehrung aus: »Die aus dem Polykarpmartyrium bekannten Fakten (Grabkult, Reliquienverehrung) sind nicht der Anfang, sondern die Fortsetzung einer ein halbes Jahrhundert äl­-teren Märtyrerverehrung […] die daher in Rom ohne weiteres ins 1. Jahrhundert zurückreichen wird.« (308) Dagegen hält Zwierlein fest: »Die frühen Christen […] pflegten keinen Totenkult. Danach aber, als der einsetzende Märtyrerkult die Errichtung von Me­-morien und Grabstätten hervorrief, war Petrus durch die oben geschilderten Entwicklungen so sehr mit Rom […] verbunden und keine entgegenstehende Tradition lebendig, daß (sic!) sich aus ganz natürlichen Gründen kein Gegenanspruch regte.« (465) Gnilka be­wertet die Tatsache, dass Cyprian faktisch die Vorrangstellung des Bischofs von Rom nicht anerkannte, ja zuletzt gar bestritt, gleichzeitig aber nicht die Vorstellung der apostolischen Sukzession bis auf Petrus ablehnte, als schwerwiegendes Zeugnis für einen Pe­-trus­aufenthalt in Rom (248). Das Schweigen der Apostelgeschichte zum Tod beider Apostel interpretiert von Haehling aus apologetischem Kalkül des Verfassers, der dem Staat unbedingte Loyalität erweisen möchte. Wird dadurch aber wirklich schon »das Schweigen der Quellen zum beredten Argument für den Aufenthalt und das Martyrium beider Apostel in Rom« (547)?
Etliche Beiträge sind nicht frei von apologetischem Interesse. Zwei kontroverstheologische hermeneutische Beiträge zur Bedeutung der Historizität des Petrusaufenthalts in Rom wären willkommen gewesen. Ein abschließendes Register hätte diesen Band, der in seiner interdisziplinären Anlaget eine Fülle historischer, literarischer und archäologischer Themen aufarbeitet, bereichert.