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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

105–107

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Hürten, Heinz

Titel/Untertitel:

Deutsche Katholiken 1918–1945.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1992. 700 S., 82 Abb. auf 48 Taf. gr.8o. Lw. DM 68,-. ISBN 3-506-73966-2.

Rezensent:

Jörg Haustein

Wie kaum ein anderer hat sich der emeritierte Eichstädter Historiker Heinz Hürten mit der Geschichte des römischen Katholizismus im Deutschland der letzten hundert Jahre befaßt. Dabei hat er immer Wert auf ein eigenes Profil gelegt, das in der Auseinandersetzung mit seinem Forschungsobjekt kritischer gegenüberstehenden Positionen und Forschungen eine spürbare Loyalität gegenüber seiner konfessionellen Herkunft und Heimat erkennen ließ, die stets mit dem Willen zu solider historischer Arbeit verbunden war. Wenn er in seinem bislang umfangreichsten Werk noch einmal "deutsche Katholiken" (angesichts der Vielzahl denkbarer Titel für ein solches Unternehmen bereits eine Aufforderung zum Nachdenken) zwischen der Kapitulation des zweiten und der Befreiung vom dritten Reich zum Thema macht, so dürfte er selbst damit den Schwerpunkt seines Lebenswerkes benennen. Er selbst lieferte mit siebzehn Titeln im 38seitigen Literaturverzeichnis die meisten Beiträge.

H. verzichtet auf eine systematische Struktur zugunsten einer Abfolge von 28 etwa gleichlangen Kapiteln, die sich wie Essays zu den Brennpunkten der Entwicklung lesen lassen und das literarische Können des Autors verraten. Den historischen Vorgängen und ihrer zentralen Problematik entsprechend kann man gleichwohl eine Zwei- bzw. Dreiteilung vornehmen: Die ersten Kapitel vom "Deutschen Katholizismus am Ende des Kaiserreiches, Strukturen, Traditionen, Tendenzen" bis zu "Kirche unter dem Konkordat" (13-271) läßt die Kräfte des deutschen, schließlich auch des kurialen Katholizismus als Subjekte des Handelns erscheinen. Im Vordergrund steht hierbei die Darstellung der Verbandsarbeit des Katholizismus (besonders natürlich des Zentrums), und des katholischen "Milieus" in seiner Minderheitensituation vor dem Hintergrund der "Bewegungen" der 20er Jahre. Auf den ersten Seiten schlägt H. hilfreiche Schneisen in die Geschichte des deutschen Katholizismus der Zeit und liefert Interpretamente für das Verständnis der späteren (zentralen) Entscheidungen. Beispielhaft hierfür ist die ausführliche Behandlung der 1918/19 gemachten Erfahrungen und Erfolge als Verstehenshorizont für die "Revolution" von 1933. Zu den Gretchenfragen des Jahres 1933, dem Verhältnis von Reichskonkordat und Ermächtigungsgesetz und des Hirtenbriefes vom 23. Mai bietet H. die Antworten früherer Publikationen in ausführlicher Argumentation. Daß gerade hier die Auseinandersetzung mit Klaus Scholder breiteren Raum einnimmt, verwundert nicht, liegt doch an dieser Stelle natürlich nach wie vor der Punkt, an dem die Geschichtsschreibung sich polarisiert in die, für die nicht sein kann, was nicht sein darf, und die, für die sein muß, was zeitlich und thematisch so offen vor Augen liegt. Es ist H.s gutes Recht, die Forschungslage hier als "eindeutig" festzustellen (233). Die Skepsis aber wird bleiben.

Die "Anerkennung" des nationalsozialistischen Staates (nicht der nationalsozialistischen Ideologie) durch das Wort der Bischofskonferenz nach innen und vor allem durch das Konkordat auf internationalem Parkett wird von H. zwar nicht völlig negiert, aber doch sehr in Frage gestellt. Steht gegen das Selbstverständnis der episkopalen und kurialen Protagonisten, das H. in den Mittelpunkt stellt, nicht aber die Verwertung der Vorgänge durch die (gleichgeschaltete) Presse und in ihrer Folge ein schwer zu messender, aber kaum zu leugnender Wandel im katholischen Bevölkerungsteil Deutschlands? H. schreibt, das Konkordat habe "in manchen Kreisen dazu beigetragen, die noch vorhandenen Reserven gegen den Nationalsozialismus und das neue Regime abzubauen" (246). Hätte er aufgrund der Quellen und des Gesamteindrucks geschrieben: "in weiten Kreisen", so wäre auch das nicht falsch gewesen. Die Spannung innerhalb der römisch-katholischen Kirche zwischen theologischer Erkenntnis hinsichtlich der national sozialistischen Ideologie und kirchenrechtlichem Bedürfnis gegenüber dem nationalzozialistischen Staat wird von H. dahingehend gelöst, daß er cum grano salis zu der Folgerung kommt, unter den gegebenen Umständen hätte es 1. gar nicht anders und 2. gar nicht besser für die katholische Kirche Deutschlands kommen können.

Die zweite Hälfte des Werkes, "Die Verdrängung aus der Gesellschaft" bis "Widerstand?" (272-541) sieht Kirche und Katholiken vornehmlich als Objekt der Willkür des nationalsozialistischen Terrorstaates. Mit beeindrückender Nüchternheit reiht H. Beispiele für verstecktes und offenes Eintreten für die katholische Identität aneinander, Episoden (der "Oldenburger Kreuzstreit", 311ff), komplexere Vorgänge (Enzyklika "Mit brennender Sorge", 362-399) und natürlich deutsche Katholiken (z.B. das verzweifelte Wirken der Katholikin Margarete Sommer, die als Leiterin des Hilfswerkes für katholische Nichtarier bereits 1942 auf Massenermordungen an Juden aufmerksam machte, 509 ff.).

Das letzte Kapitel "Schuld, Bewährung, säkularer Trend und nationale Geschichte" (542-558) kann zusammen mit den beiden in den chronologischen Zusammenhang eingebundenen vorangehenden: "Der Mord an den Juden" und "Widerstand?" als apologetischer Ausklang gelesen werden. "Die Wissenschaftspraxis setzt Werte voraus, nach denen sie die Auswahl ihrer Forschungsgegenstände bestimmt" (543) meint H., und der ihn bestimmender Wert ist ein "sentire cum ecclesia", das für den evangelischen Leser dann fragwürdig wird, wenn seine eigene Kirche lediglich von Zeit zu Zeit eine Rolle als Negativfolie spielt. Der einleitend begründete Verzicht auf eine Behandlung der deutschen Protestanten als "Vergleichsgröße" wird in der Darstellung nämlich dann unterbrochen, wenn eine fragwürdige katholische Position erst durch den Vergleich mit protestantischem Pendant erträglich wird.

So etwa im Kapitel über die katholischen "Brückenbauer" zum Nationalsozialismus, bei denen "immer noch Grenzen gewahrt blieben, die zur selben Zeit andernorts [sc. innerhalb der evangelischen Kirche und Theologie] bedenkenlos überschritten wurden" (227) u.ö. Feststellungen, daß beide Kirchen vom Regime als Gegner und von außen als "Träger des Gewissens gegen die nationalsozialistische Diktatur" (335) gesehen wurden, begegnen nur unkommentiert im Zitat. Die Karten zur konfessionellen Verteilung und zu den Ergebnissen der Reichstagswahl vom 5. März im Vorsatz lassen ebenfalls die Überlegung keimen, als solle der deutsche Katholizismus doch zunächst einmal vom deutschen Protestantismus positiv abgehoben werden. Die Nebeneinanderstellung der Ergebnisse vom 5. März und 12. November wäre aber zum Thema und zum Problem "deutsche Katholiken" geeigneter gewesen.

Trotz dieser Bemerkungen bleibt festzuhalten, daß das mit Bildern und einem vorwiegend aus dem "Kirchlichen Handbuch" zusammengetragenen statistischen Anhang hilfreich vermehrte Buch einen entscheidenden Teilbereich deutscher Kirchengeschichte der jüngsten Vergangenheit als Standardwerk abdeckt, das an zukünftigen Diskussionen partizipieren wird.

Kleinere Fehler: die auf S. 28 genannten Personen sind im Register der S. 27 zugeordnet, S. 262: Buttmann statt Bultmann!