Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

810–812

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dochhorn, Jan

Titel/Untertitel:

Schriftgelehrte Prophetie. Der eschatologische Teufelsfall in Apc Joh 12 und seine Bedeutung für das Verständnis der Johannesoffenbarung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XV, 478 S. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 268. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-150608-6.

Rezensent:

Martin Karrer

Wie kaum eine andere neutestamentliche Schrift fasziniert die Apokalypse religionsgeschichtlich. Doch Einigkeit über ihren religionsgeschichtlichen Ort entstand nicht. Die Aufklärung suchte diesen im alexandrinischen Judentum (J. S. Semler, Christlich freye Untersuchung über die so genannte Offenbarung Johannis, 1769, Vorrede), die religionsgeschichtliche Schule (bei der D.s Prüfung der Forschung 1 f. beginnt) über Einflüsse des Ostens (H. Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, 1895), das 20. Jh. in einer Mischung jüdischer und nichtjüdischer Einflüsse um das Mittelmeer (Isis-Horus- und Apoll-Mythos; vgl. A. Y. Collins, The Combat Myth in the Book of Revelation, 1976 u. v. a.). Nun schlägt D. in seiner herausragenden, in Göttingen begonnenen und in Århus vollendeten Studie vor, die außerjüdische Religionsgeschichte wieder in den Hintergrund zu verweisen; allenfalls gelegentliche, für die Deutung nicht entscheidende Impulse gesteht er ihr zu (74–76 u. ö.). Maßgeblich sei die pragmatische Lektüre der Apk auf der vorfindlichen Textebene vor dem Hintergrund Israels.
Das führt D. zu der folgenden, ebenso kühnen wie gewichtigen These (§§ I–III 4 der Arbeit): Ausschlaggebend für das Verständnis der Apk sei ein Prozess schriftgelehrter Prophetie (19 u. ö.), d. h. eine Durchdringung der Schriften Israels auf Zukunft hin durch den Apk-Autor, und maßgeblich für Apk 12 speziell der Kontext jüdischer »Überlieferung vom endzeitlichen Teufelsfall« (vgl. QM usw.; 6 u. ö., Hervorhebung dort). Apk 12 gehöre zudem noch zur 7.Po­-saune (als Teilabschnitt nach den »Überschriften« 11,15–18 und 11,19; 3.79–86, Zitat 85). Das Kapitel biete deshalb eine Zukunftsansage unter Rückgriff auf die geschehene Geburt und Entrückung des Messiasknaben (53 u. ö.), nicht das Zeugnis eines tief in der antiken Umwelt verwurzelten Mythos, der die zerrissene Gegenwart deute (wie das derzeit meist in der Forschung vertreten wird; vgl. zur Diskussion P. Busch, Der gefallene Drache, 1996; J. Kalms, Der Sturz des Gottesfeindes, 2001; M. Koch, Drachenkampf und Sonnenfrau, 2004).
Der enge Raum einer Rezension kann die Details der Untersuchung nicht nachzeichnen. Nennen wir wenigstens ein Kabinettstückchen, die Rekonstruktion des Ausgangstextes (§ IV; 171–192 nach 30–36): D. prüft in einem kleinen Vorgeschmack auf die anstehende Editio maior der Apk alte Zeugen und Übersetzungen (einschließlich der äthiopischen) und beseitigt Unausgewogenheiten in der Wiedergabe von Varianten bei Nestle-Aland27. Zugleich bestätigt er fast durchwegs den dortigen Obertext. Nur in der Auslassung von καί vor κράζει 12,2 (bezeugt von A, Hippolyt und Andreastext gegen den S-Text; editionsgeschichtlich die Lesart des Textus receptus) und im Vorzug für κατήγορος (das der Textus receptus nach der Mehrzahl der Handschriften bot) statt κατ­ήγωρ 12,10 (eine Sonderlesart von A, die die kritische Edition des 20. Jh.s bevorzugte) weicht er ab (187–192). Den Sinn ändert allein die erste Variante. Denn durch die Auslassung von καί beginnt in 12,2 ein neuer Satz: »und schwanger schreit sie«; Handlung folgt auf die Schau von V. 1 (188). Über D. hinaus ließe sich die schwangere Frau von V. 2 sogar von der Frau am Himmel unterscheiden; zu den Versen 4b–5 würde gut passen, wenn sich die Frau von V. 2 auf Erden befände. Für die textkritische Forschung sind beide Entscheidungen relevant. Denn sie werten indirekt – wie häufig in der derzeitigen textkritischen Diskussion – den Textus receptus auf. Warten wir ab, ob die begonnene Editio critica maior (an der D. als Fachberater mitwirkt) in die gleiche Richtung geht.
Konzentrieren wir uns nun auf die großen Weichenstellungen, die sich in D.s Neudeutung stützen und durchdringen:
1. Das entscheidende Argument dafür, Apk 4–19 gälten der Zukunft, entnimmt D. der Ansage von 4,1, dem Seher werde nun gezeigt, »was danach«, d. h. nach dem, »was ist« (1,19), »geschehen muss« (ἃ δεῖ γενέσθαι μετὰ ταῦτα; 52). Allerdings schließt die futurische Tendenz von 4,1–22,5 (dem Corpus der Apk) nach dem Großteil der Forschung nicht aus, in den Visionen entschieden auf das, »was ist«, Bezug zu nehmen. Darüber hinaus widerspricht D. der sog. Rekapitulationstheorie, d. h. der (inzwischen weit vom Begründer Viktorin entfernten) Auffassung, die Apk wähle in ihren Visionsreihen Wiederholungen und wechsle Perspektiven. Nach dieser in der Forschung dominierenden Ansicht wäre die Visionsfolge als literarischer, nicht als zeitlich linearer Fortgang zu lesen. D. dagegen entscheidet sich für eine »primär lineare Zeitökonomie« (Zitat 54 hervorg.) mit einer dramatischen Steigerung von Heptade zu Heptade. Seine Position ist eindrücklich, nicht zwingend.
2. Die Einordnung des Kapitel 12 in die siebte Posaunenvision (11,15–15,8 bzw. 19,21) besitzt eine gewichtige Stütze in der Inklusion von 10,7 zu 15,1 (ἐτελέσθη, bes. 82 f.), führt jedoch zu einem Achtergewicht in der Gesamtgliederung; die siebte Posaune gewönne einen größeren Textumfang als die Posaunen 1–6 und absorbierte am Ende sogar die sieben Schalen (403–407). Dem widerrät, dass die Apk die Posaune nach 11,15 nicht mehr erwähnt (weder σάλπιγξ noch σαλπίζω kommen im zweiten Teil der Apk vor).
3. Die Kritik an der nichtjüdischen Religionsgeschichte äußert D. trotz aller Schärfe differenziert. Denn ein zentraler Punkt der Apk-Auslegung, die Nero-redivivus-Vorstellung wird davon nicht betroffen; diese Vorstellung sieht D. mit dem Forschungskonsens vor der Apk entstanden und von der Apk nur mit In­-novationen versehen (117–121; 76 definiert er sie als »politisch motiviertes Ge­rücht«, nicht als »religiöses Konzept«). An anderer Stelle bereichert D. die Quellen sogar: Den narrativen »Archetyp« der »gefährdeten Geburt eines künftigen Siegers« findet er in einem Mythos der Basutho näher zu Apk 12 als im Leto-Apoll-Mythos der Antike (14.351 f., Zitate 351). Aber diese Parallele steht der Apk zeitlich und räumlich so fern, dass sie D. zugleich vor einer Überschätzung von Parallelen überhaupt warnen lässt. Liebhaber der antiken Religionsgeschichte (zu denen der Rezensent zählt) werden diese Kritik hören und ernst nehmen müssen und doch einen Mittelweg wählen können: Die Pragmatik der Apk zwingt gegen D. aus »methodischen Gründen« nicht zu Zweifeln daran, dass die »pagan-religiösen« »Parallelen etwas für die Rekonstruktion des vom Verfasser intendierten Verstehensvorganges austragen« (20). Der Kontakt der Apk mit den intendierten Lesern gewinnt vielmehr, wenn wir sie religionsgeschichtlich mit den Mythen des frühen Imperiums stärker als D. ins Gespräch setzen.
4. Das Pendant zur Kritik an einer Überschätzung der Religionsgeschichte der Völker bildet eine bis dato unbekannte Aufmerksamkeit auf die vorfindliche Textebene der Apk und ihre Verwurzelung im Schrifttum Israels. D. zeichnet das als Inanspruchnahme der Leser nach, die die Collage jüdischer (und frühchristlicher) Erinnerungssegmente im Text in angestrengter Aktivität entschlüsseln sollen; denn der Apk-Autor mutet ihnen zu, was in anderen Schriften (4Esr, 2Bar) den Visionen beigefügte Deutungen leisten: aus den Anspielungen des Textes und seinen spannungsvollen Bildern selbst Szenen und Textsinn zu erzeugen (64–71). Der Autor steuert mithin den Lesevorgang. Er versteht die »alten Propheten« hermeneutisch als Modell und als Mitteiler rätselhafter Texte, die endzeitlich zu erschließen und auszulegen sind (71; linguistische Intertextualitätstheorien, auf die D. nicht eingeht, könnten das vertiefen).
Die geschilderten Entscheidungen führen zu einer in sich hoch stringenten Auslegung. Nennen wir wieder nur die sich ergebende Linie (in Zusammenfassung von D.s §§ III Kontext, V Oberfläche und VI Tiefenstruktur von Apk 12, auf die wir schon mehrfach vorgriffen):
Die Frau von Apk 12,1–5 verweist auf Zion, das den Messias gebiert (140–159), und die Geburt-Entrückung des Knaben (V. 5) verwandelt das Osterereignis. Die österliche Erhöhung Jesu ist also im Spiegel von Apk 12 »eine Geburt in Gefährdung«, ausgerichtet auf Christi dereinstige Herrschaft mit eisernem Szepter (vgl. Ps 2,9; 170 u. ö.). Das macht Apk 12 zur Zukunftsvision. 12,7–12 blickt daraufhin auf die Zukunft im Sturz des Satans aus, der jüdische und frühchristliche Vorstellungen vom »eschatologische(n) Teufelsfall« verdichtet (260–307; besonders wichtig die Vergleiche mit 1QM XVII 5–8, Lk 10,18 und Röm 16,20a). 12,13–18 schließlich erzählt in nuce die »Eskalation des Endzeitgeschehens« vor dem 1000-jährigen Reich, entwirft somit eine Perspektive auf die Geschichte des Chris­tentums (138 f. u. ö.).
Das Motiv des Drachens (Teufels) durchzieht zugleich das ganze Kapitel. So skizziert es, in seiner Tiefenschicht gelesen, den endzeitlichen Völkerkrieg um Zion. Zuerst stürzt der Drache (Teufel) aus dem Himmel, so dass er dort alle Macht verliert, dann zürnt er (wie wir durch den Fortgang wissen, am Ende vergebens) auf Erden. Das Auftreten eines schrecklichen Weltherrschers, des Nero redi­vivus, der aus der Weltmacht stammt (Rom), diese aber auch zerstört, folgt entsprechend dem Teufelssturz, wie Apk 13–19 auf Apk 12 folgen. Die Gemeinde aber soll sich nicht an diesen Schrecken orientieren (samt der Verfolgung, die auf sie zukommt), sondern am Messias, der am Himmel geboren wird – das Zeichen von 12,1 f. steht (unter Anspielung auf Jes 7,14) dafür ein, dass im Kreuzes­ereignis himmlisch der Auferstandene geboren wird (Resumée: 394–397; Vergleich von 12,5 mit Röm 1,3 f.: 400).
So geschlossen und folgerichtig die Interpretation ist, stellen sich wiederum Fragen; nennen wir drei: Lässt sich das Kreuz so intensiv in die Deutung unseres Kapitels einbeziehen, nachdem 11,8 es eher erratisch erwähnt und Kapitel 12 die Kreuzigung nicht nochmals nennt? Verändert sich der Blick nach oben nicht womöglich sogar schon durch die erwähnte Textkritik (falls nämlich 12,2.5 eine Geburt auf Erden und anschließende Entrückung meint, was weit schwerer zur Geschichte Jesu passen würde)? Sind die intertextu­ellen Bezüge stark genug, um Jes 7,14, Ps 2 und am Ende sogar Gen 3,15 (Apk 12,17; 302–304.390–393.398) eschatologisch zu aktualisieren?
D.s Ergebnisse hätten – damit schließt die Studie – erhebliche Folgen für künftige Forschung. Diese müsste prüfen, ob die heute bevorzugten Traditionen vom urgeschichtlichen Teufelssturz nicht gegenüber dem eschatologischen Teufelssturz sekundär seien (399). Zudem müsste sie innerchristlich die Geburt des Messias im Himmel (Apk 12) womöglich als älter bewerten als die Anwendung von Jes 7,14 auf die irdische Geburt Jesu (Lk 1,36–38; Mt 1,18–24: 400). Die zweite These ist nach dem Gesagten fraglicher als die erste, erstere aber nicht zuletzt eine hermeneutische Provokation: Die Apk verlangt, ein (sei es urgeschichtlich, sei es endgeschichtlich ausgelöstes) Wirken des Satans heute neu zu durchdenken und – darum wird eine kritische Lektüre nicht umhin kom­-me n– umzuformulieren.
Keine der genannten Anfragen aber schmälert die Qualität der Arbeit und die Fülle der Einzelbeobachtungen, die D. in großer Gelehrsamkeit darbietet. Seine Studie bleibt in jedem Fall die derzeit bedeutendste Arbeit zu Apk 12, auch wenn ein Ausleger andere methodische Entscheidungen und Deutungsakzente bevorzugt. Umfangreiche Register helfen, den reichen Schatz der Untersuchung zu heben.