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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

804–806

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Crüsemann, Frank

Titel/Untertitel:

Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. 384 S. m. Abb. 22,7 x 15,0 cm. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-579-08122-9.

Rezensent:

Patricia Kemmer/Barbara Schmitz

In dem 2011 erschienenen Buch »Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel« geht es Frank Crüsemann um Selbstvergewisserung und die Legitimität seiner bisherigen Lesart des Alten Testaments: »Ich wollte mir als christlicher Theologe endlich selbst darüber klar werden, warum ich das Alte Testament so lese, wie ich es lese, und ob es legitim ist, das zu tun« (11). Zugleich möchte er aber über den persönlichen Horizont hinaus einen Lernprozess in Kirche und Theologie anregen, in dem neu zu begreifen sei, dass es »nichts gibt, was grundsätzlich über den Raum hinausführt, der in der Schrift und durch die Schrift, also durch das Alte Testament, eröffnet wird« (11). Daher stellt C. 1Kor 4,6 als Leitmotiv seinem Buch programmatisch voran: »Nicht über das hinaus, was geschrieben steht«.
C. geht es um eine neue Verhältnisbestimmung beider Testamente und eine damit verbundenen Neubetrachtung von Chris­tentum und Judentum. Seine Kernthese legt C. gewissermaßen als Schablone vor theologische Parameter, die traditionell eine Herabstufung des Alten Testaments gegenüber dem Neuen Testament begründen, und bemüht sich, diese Traditionen aus exegetischer Perspektive neu anzugehen. Als Kernthese formuliert er: »Das Alte Testament muss für ChristInnen und die christliche Theologie, ja letztlich für den christlichen Glauben denselben theologischen Rang haben, den es im Neuen Testament hat, den es also für Jesus und für die Verfasser und Verfasserinnen der (meisten) neutestamentlichen Schriften hat.« (28)
Das Buch ist in vier große Teile eingeteilt: Nach einer Einführung (13–28) folgt ein zweiter, historisch orientierter Teil mit einem Überblick bisheriger Positionen der Verhältnisbestimmung (31–90; Kapitel 1–3), als Drittes ein Teil, der die jüdische Bibel als Schrift des Neuen Testaments betrachtet (91–225; Kapitel 4–6), und zuletzt der vierte Teil zur Messianität Jesu (227–314; Kapitel 7–10).
Sein Anliegen erläutert C. an der Erzählung über Jesus im Tempel, wie sie sich im Lukasevangelium findet (Lk 2,41–51) – eine Erzählung, die in der Theologie wie in der Kunst immer wieder als eine Szene der Überlegenheit Jesu gegenüber den Lehrern im Tempel, und damit exemplarisch dem Judentum, gelesen wurde und wird. C. hingegen zeigt durch genaue Lektüre der erzählten Szene auf, dass es sich genau umgekehrt verhalte: Jesus ist nicht erhöht, sondern sitzt mitten zwischen den Lehrenden; er redet nicht, sondern er hört zu; er lehrt nicht, sondern lernt und erweist sich darin als ein guter Toraschüler. C.s Plädoyer, die neutestamentlichen Texte nicht vorgeprägt durch spätere kirchlich-dogmatische Entscheidungen zu lesen, sondern sie vielmehr selbst wahrzunehmen, erläutert er folgendermaßen: »Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament und damit auch von Christentum und Judentum soll nicht aus der Tradition oder einer theologischen Theorie, sondern soweit wie möglich allein aus der Schrift selbst bestimmt werden.« (19) Hierzu muss die Art und Weise neu in den Blick genommen werden, wie in den Schriften, die später »Neues Testament« wurden, mit der Schrift, also dem, was wir heute christlicherseits »Altes Testament« nennen, umgegangen wird. Diese Zuordnung von Altem und Neuem Testament fasst Crüsemann durch den titelgebenden Begriff »Wahrheitsraum«: Die Geltung der Schrift werde in den neutestamentlichen Schriften als »wahr« vorausgesetzt, so dass neutestamentliche Theologie ganz in diesem »Wahrheitsraum« stattfinde.
Um dies zu erläutern, zeichnet C. die bisherigen Modelle und Aporien im zweiten Teil nach (31–90; Kapitel 1–3). Im ersten Kapitel ordnet er die bisherigen Modelle der Zuordnung von Altem und Neuem Testament vier Typen (Ablehnung, Kontrast, Christuszeugnis, Relativierung und Selektion) zu. Im zweiten Kapitel nimmt C. die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament mit dem Tübinger Modell (Gese/Stuhlmacher) und durch die Anfragen von James Barr in den Blick. Das dritte Kapitel stellt den ersten beiden den neuen Ansatz entgegen, der sich in den christlichen Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten zur Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Israel entwickelt hat: Die volle theologische Anerkennung des Judentums als uneingeschränktem Weiterbestehen des Bundes Gottes mit Israel und der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes in den christlichen Kirchen stellt einen beispiellosen Wandel in der Geschichte der christlichen Theologie dar. Dass sich mit diesem Wandel viele Fragen verbinden, die nicht nur exegetischer und systematisch-theologischer Natur sind, sondern auch das Selbstverständnis der Kirchen und der einzelnen Christinnen und Christen zutiefst betreffen, zeigen die neueren Entwicklungen, wie etwa die Diskussion über die Karfreitagsfürbitte und die Frage nach der Judenmission.
Weil die Abwertung des Judentums nach wie vor wirksam ist und mit der Neubestimmung des Verhältnisses die christliche Identität angefragt und verunsichert zu sein scheint, zeigt C. im dritten Teil auf, wie die jüdische Bibel als Schrift im Neuen Testament rezipiert wurde und wie die Verhältnisbestimmung in den Schriften des Neuen Testaments selbst vorgenommen wurde (91–225; Kapitel 4–6). Im vierten Kapitel geht es um die Bedeutung und den Rang, der in den Schriften des Neuen Testaments dem sog. Alten Testament zugesprochen wird. Das fünfte Kapitel fragt, ob es etwas »Neues« im Neuen Testament gebe, und nimmt dabei besonders die Rede vom »neuen Bund« in den Blick. Die Zuordnung von den Völkern, dem Gott Israels und der Kirche ist sodann Thema im sechsten Kapitel.
Im vierten und letzten Teil des Buches (227–314; Kapitel 7–10) steht die Frage der Messianität Jesu im Mittelpunkt: Die Fragen nach der »Erfüllung der Schrift« (Kapitel 7), nach der Auferstehung (Kapitel 8), nach den Motiven Erhöhung und Präexistenz Christi (Kapitel 9) sowie schließlich der Gebrauch der Formulierung »Jetzt« und »Heute« im Neuen Testament (Kapitel 10) werden diskutiert. Das Buch schließt mit dem 10. Kapitel zum Wahrheitsraum der Schrift ab. »Wahrheitsraum« ist als eine Metapher zu verstehen, die verdeutlichen soll, dass das Alte Testament die Bezugsschrift des Neuen Testaments ist und erst die eigentliche theologische Bedeutung der christlichen Bibel eröffnet.
Aus der Lektüre der neutestamentlichen Texte im Wahrheitsraum der Schrift entwickelt C. eine Hermeneutik für den Umgang mit dem Neuen Testament, die weitreichende Folgen hat: in Bezug auf den Rang und die Bedeutung des sog. Alten Testaments in der christlichen Theologie, auf die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament sowie in Bezug auf eine – im Vergleich zur christlichen Tradition – noch junge wertschätzende Haltung ge­genüber dem Judentum durch christliche Theologie, Kirche und Praxis. Dass diese keine Neuerung des 20 Jh.s ist, sondern vielmehr der Haltung der Schriften entspricht, die später als »Neues Testament« bezeichnet werden, ist das Grundanliegen dieses Buches. »Theologisch ist dieses Verhältnis nur biblisch und das heißt aus den innerbiblischen Beziehungen neu zu gewinnen. Das muss dazu führen, das Alte Testament wieder in die Rolle einzusetzen, die es im Neuen Testament hat, also als die Schrift, genauer jetzt: als die Schrift der Schrift« (341).
C. hat ein die Diskussion bereicherndes Buch geschrieben, dem man nur wünschen kann, dass es von vielen gelesen wird – von professionell mit der Theologie Beschäftigten ebenso wie von neugierig Interessierten.