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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

803–804

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Becking, Bob, and Lester L. Grabbe [Eds.]

Titel/Untertitel:

Between Evidence and Ideology. Essays on the History of Ancient Israel read at the Joint Meeting of the Society for Old Testament Study and the Oud Testamentisch Werkgezelschap Lincoln, July 2009.

Verlag:

Leiden/ Boston: Brill 2011. XIV, 234 S. m. Abb. 24,0 x 15,7 cm = Oudtestametische Studiën, 59. Lw. EUR 97,00. ISBN 978-90-04-18737-5.

Rezensent:

Sebastian Grätz

Der Sammelband geht zurück auf eine Tagung der beiden im Untertitel genannten Gesellschaften, die am 27. und 28.7.2009 in Lincoln abgehalten wurde. Die Vorträge von E. A. Knauf (The End of History) und E. Noort (The Historiography of Settlement) sind nicht in den Band eingegangen (vgl. Introduction, VII, Anm. 1). Im Fokus des Bandes stehen einerseits die primär historische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger wissenschaftlicher historischer Rekonstruktionen, andererseits die primär hermeneutische Frage nach den Voraussetzungen antiker, mittelalterlicher/frühneuzeitlicher sowie gegenwärtiger Modelle von Geschichtsschreibung und -aufarbeitung bis hin zur (bedenkenswerten) Problematik der wissenschaftlichen Meinungsbildung und -steuerung durch einen Konsens ( Lester L. Grabbe, The Case of the Corrupting Consensus).
Ein gutes Beispiel für eine historische Rekonstruktion ist der Beitrag von Bob Becking (David between Ideology and Evidence), der mit einer theoretischen Grundlegung beginnt und seine Re­konstruktion an das Modell von Hayden White anlehnt und definiert: »History Writing as Re-enactment based on Evidence« (7). Becking zieht zu seiner Rekonstruktionsskizze sämtliche greifbaren Daten heran: Landschaft, Klima, Archäologie, Epigraphie (mit einer vielleicht zu optimistischen Lesung der Khirbet Qeiyafa-Inschrift) sowie das Alte Testament. Am Ende steht die bündige Rekonstruktion des über David und seine Zeit historisch Greifbaren. Eine kritische Diskussion der Anfänge Israels bietet Meinert Dijkstra (Origins of Israel between History and Ideology), der das Auftauchen Israels innerhalb sich verschiebender Machtgefüge (Ägypten, Philister, Phönizier) und klimatischer Bedingungen erörtert. Hervorzuheben ist die ausführliche Behandlung der sog. Israel-Stele des Merenptah im Zusammenhang ägyptischer Königsideologie am Beispiel der Reliefs an der Westmauer der cour de la Cachette des Karnak-Tempels, die kaum als bildliche Belege für einen eigenen Palästina-Feldzug Merenptahs gewertet werden dürften (vgl. zur gegenwärtigen Diskussion auch M. Weippert, Historisches Textbuch zum Alten Testament, GAT 10, Göttingen 2010, 159 ff.).
Ebenfalls mit der Rekonstruktion historischer Zusammenhänge sind die Artikel von Harm van Grol (Three Hasidims and their Militant Ideologies: 1 and 2 Maccabees, Psalms 144 and 149) sowie Andrew D. H. Mayes (Pharaoh Shishak’s Invasion of Palestine and the Exodus from Egypt) befasst. Ersterer vermutet (wie bereits B. Duhm), dass die Asidaioi der Makkabäerbücher und die in Ps 144 f.; 149 genannten bzw. gemeinten Hasidim eine distinkte sektiererische Gruppe in hellenistischer Zeit gebildet hätten (zur Kritik vgl. Grabbe, Introduction, X), Letzterer versteht den Gründungsmythos Israels, den Exodus, als kombinierte und verdichtete politische Erfahrung des 10. Jh.s v. Chr. Während Jerobeam die Israeliten vom Frondienst unter Salomo befreit habe, sei der Feldzug Scheschonks in die Jezreel-Ebene letztlich für die Erstarkung Israels unter den Omriden verantwortlich gewesen: »Finkelstein proposes that the effect of this invasion, following on the withdrawal of Shishak, was to leave the way open for those settled on the highlands of Samaria to expand into and dominate the Jezreel valley.« (135)
Nach den Möglichkeiten und Grenzen archäologischer Beiträge für die Rekonstruktion von geschichtlichen Daten fragt schließlich Nadav Na’aman (Does Archaeology Really Deserve the Status of a ›High Court‹ in Biblical Historical Research?), der sechs Fallstudien vorführt, bei denen die schriftliche (epigraphische und biblische) Evidenz gegen die archäologische zu sprechen scheint. Aufgrund der zum Teil unzulänglichen oder fehlenden Erhaltung archäolo­gischer Daten folgert er: »But in regard to multi-strata highland sites in such times as the ›United Monarchy‹ and the Babylonian and Persian Periods, the results of archaeological excavations should be treated with great caution.« (183) Jill Middlemas (The Greek Esthers and the Search for History: Some Pre­-liminary Observations) untersucht, wie die beiden griechischen Versionen des Esterbuchs durch entsprechende Ergänzungen zum MT Ge­schichts­schrei­bung betreiben, und zwar in dreifacher Hinsicht: »(1) the deity engages in his­tory, even determines it, (2) the story of Esther, Mordecai, and their Diaspora community is part of scriptural history, and (3) history is unfolding in the present time« (161). Dieser Beitrag zeigt in besonderer Weise, wie unentbehrlich die gründliche Untersuchung der Textversionen für unser Verständnis von Geschichte in der biblischen Antike und damit auch für unser Verständnis re­daktioneller Prozesse innerhalb der biblischen Überlieferung ist. Klaas Spronk (History and Prophecy in the Book of Judges) fragt nach ebendiesen Prozessen, wenn er das Buch der Richter hinsichtlich seiner Brückenfunktion zwischen Josua und Samuelis als »prophetisches« Buch versteht und dessen historischen Hintergrund in der späten Königszeit sieht. Einen all­gemeinen Überblick über die Diachronie des Alten Testaments gibt der Beitrag von Marinus Koster (The Old Testament as a Diachronic Corpus), der den Sprung von der Literaturgeschichte des Alten Testaments hin zur Geschichte Israels folgendermaßen unternimmt: »As, in its present form, it still witnesses to this long, complicated and, at times, frustrating process, it should not be degraded to a secondary source: it has a specific longue durée of its own, which makes it a primary source for writing its own history of ancient Israel. Essentially … its character is that of story-like history, however many examples of history-like story may also be found in it« (127 f., kursiv dort; s. auch die treffende Bemerkung zu diesem Satz von L. L. Grabbe, Introduction, XI: »Of course, the tricky part is to determine which is which.«). Schließlich widmen sich die Beiträge von John R. Bartlett (Mercator in the Wilderness: Numbers 33) und von Keith W. Whitelam (Resisting the Past: Ancient Israel in Western Memory) der Palästinakarto­graphie in der frühen Neuzeit hinsichtlich der Lokalisierung biblischer Orte (Bartlett) und hinsichtlich des Selbstbildes und der Besitzansprüche der expandierenden englischen Kolonialmacht (Whitelam).
Der durch eine informative Einleitung (L. L. Grabbe) und abschließende Register und Karten gut erschlossene Band ist, insgesamt betrachtet, eine lohnende Lektüre, weil er erstens einen Einblick in die niveauvolle Arbeit ausgewiesener Fachleute gewährt und weil er zweitens erfolgreich deutlich macht, dass sich die Rekonstruktion von Geschichte zu allen Zeiten, also auch gegenwärtig, zwischen den Polen von »Evidence and Ideology« bewegt.