Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

797–798

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Montefiore, Simon Sebag

Titel/Untertitel:

Jerusalem. Die Biographie. Aus dem Engl. v. U. Bischoff u. W. Götting.

Verlag:

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2011. 872 S. m. Abb. 21,5 x 14,0 cm. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-10-050611-5.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Der für seine Stalin-Biographie ausgezeichnete Autor Simon Sebag Montefiore versucht in einer umfangreichen Darstellung, die wechselvolle Geschichte Jerusalems von der Frühzeit bis in die Gegenwart hinein zu erzählen. Er verarbeitet dabei eine große Menge an Quellen und Literatur, um zu einer außerordentlich detailreichen, manchmal durchaus fesselnden, mitunter aber auch etwas ermüdenden Darstellung zu gelangen.
In einem Prolog erzählt M. von der Eroberung Jerusalems im Jahre 69/70 durch Titus, um die Bedeutung dieses Ereignisses, vor allem der Zerstörung des Tempels, für die weitere Geschichte der Stadt zu charakterisieren. Die Chronologie der »Biographie« be­ginnt dann mit König David. Gegliedert ist die Biographie in neun jeweils untergliederte Teile. Den ersten, mit David beginnenden Teil überschreibt M. mit »Judentum«. Leitend für seine Einteilung dürfte nicht zuletzt der im Vorwort beschriebene Anspruch dreier Weltreligionen auf die Stadt gewesen sein, weniger die wissenschaftlich differenzierte Nomenklatur.
Unter der Kapitelüberschrift »Judentum« behandelt M. dann die Geschichte von David bis zum Römisch-Jüdischen Krieg, der im Jahr 70 endet, auf die Fortsetzung bis zum Fall von Massada (73 n. Chr.) geht er bei allem Detailreichtum nicht ein. So umfasst diese Darstellung die alttestamentliche Geschichte von David über die assyrische und babylonische Invasion über die frühe Christentumsgeschichte bis zur Zerstörung des Tempels. Quelle dieses Teils ist weitgehend die Bibel (Altes Testament und Neues Testament), daneben vor allem Josephus’ Bellum Judaicum, deren Inhalt überwiegend naiv nacherzählt wird. Seiner Absicht zu erzählen entsprechend verfährt M. auch in den folgenden Teilen methodisch ähnlich. Mitunter bezieht er Ergebnisse wissenschaftlicher Bibel­exegese in vereinfachter Form in seine Darstellung ein, zumeist in Fußnoten, die durch ** markiert sind, während Quellenangaben durch Endnoten präzisiert werden. Hierbei verfährt er sparsam. So geht er wohl auf die Septuaginta ein, gibt die Legende ihrer Ent­-stehung mit dem einschränkenden Attribut »angeblich« wieder, nennt aber weder den Aristeasbrief noch gibt er dazu einen Literaturhinweis. Die Hinweise zur Dauer der Tätigkeit Jesu in den verschiedenen Evangelien sind schlicht falsch, so setzt das Johannesevangelium, nicht die Synoptiker (160!), drei Aufenthalte Jesu in Jerusalem voraus und damit eine mehrjährige Tätigkeit, so dass der Hinweis auf angebliche Forschungsergebnisse hier besser unterblieben wäre. Die Gefangennahme Jesu wird nacherzählt, so die Petrus-Malchus-Episode des Johannesevangeliums (»Petrus schlug einem Handlanger des Hohenpriesters ein Ohr ab«), nicht jedoch die Heilung des Ohrs durch Jesus bei Lukas, auch Markus wird in einer Episode benutzt, alles bleibt unkritisch nacherzählt, aber nicht so vollständig wie in den bekannten Evangelienharmonien. Bei den letzten Worten Jesu wiederum fehlt die Lukasversion, die Darstellung der Theologie des Paulus ist sehr problematisch, das Apostelkonzil und seine Be­schlüsse sind ungenau beschrieben und auf das Jahr 50 (!) datiert. Auch die Hinweise auf das Christentum als ein Bündel verschiedener Traditionen sind in ihrer kritiklosen Fundierung durch eine Mischung kanonischer und apokrypher Schriften des Neuen Testaments mehr als problematisch. Auch die Darstellung der christologischen Streitigkeiten erscheint fehlerhaft bzw. zu sehr verkürzt, Mono- und Dyophysiten werden fehlerhaft unterschieden.
Von der römischen »Aelia Capitolina« in Teil II führt uns M. dann über Teil III (Christentum), IV (Islam) zum sehr interessanten und gut lesbaren Teil V (Kreuzzüge). Ebenso durch Nacherzählung der Quellen lässt M. hier eine Zeit lebendig werden, über die Kenntnisse nicht so weit verbreitet sind, die aber für die Interpretation der heutigen Verhältnisse zwischen den Religionen erstaunliche Formen von Auseinandersetzung und Koexistenz präsentieren. So beeindruckt die Darstellung eines toleranten Islam in verschiedenen Phasen der mittelalterlichen Geschichte Jerusalems ebenso wie die judenfeindlichen Aktionen in anderen Phasen befremden. His­torisch ist dieser Teil besonders instruktiv. Die biographische Erzählung der Stadt Jerusalem beschäftigt sich in weiteren vier Teilen mit der Epoche der Mamelucken, der Osmanen, des Imperialismus und des Zionismus. Hier macht M. mit markanten Ereignissen bekannt wie mit dem Besuch Napoleons oder des Deutschen Kaisers Wilhelm II. Insbesondere dort, wo die Erzählung an die Gegenwart heranreicht, wird sie durch ihre – bereits in verschiedenen Rezensionen in Tageszeitungen unterstellte – politisch einseitig proisraelische Darstellung, wie sie besonders für die den Hauptteil beschließende Nacherzählung des Sechstage-Kriegs und den die moderne Zeit beschreibenden Epilog empfunden wird, einigen Widerspruch erfahren.
Die dem Rezensenten nicht unsympathische Darstellung der zeitgeschichtlichen Ereignisse hätte einer stärkeren Fundierung durch die Auseinandersetzung mit Gegenpositionen bedurft, so­weit das in der vorliegenden Textsorte möglich ist. Die Ausstattung des Bandes mit Bild- und Kartenmaterial ist recht lobenswert. Insgesamt legt M. einen außerordentlich instruktiven Überblick über die Geschichte Jerusalems vor, der zur fundierten Beurteilung der gegenwärtigen Situation beitragen mag. Die Problematik einer nicht vorrangig wissenschaftlicher Methodik verpflichteten Darstellungsweise, vor allem im ersten und zweiten Teil, war aufzuzeigen.