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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

790–791

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Matthäus, Hartmut, Oettinger, Norbert, u. Stephan Schröder [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Orient und die Anfänge Europas. Kulturelle Beziehungen von der Späten Bronzezeit bis zur Frühen Eisenzeit.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2011. VIII, 289 S. u. 43 Taf. m. 205 Abb. 29,7 x 21,0 cm = Philippika, 42. Geb. EUR 86,00. ISBN 978-3-447-06414-9.

Rezensent:

Katja Soennecken/Dieter Vieweger

Der Sammelband veröffentlicht die Kolloquiumsakten eines internationalen Kolloquiums aus dem Jahr 2006, das vom Interdisziplinären Zentrum »Alte Welt« der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg veranstaltet wurde. Die Thematik der Veröffentlichung widmet sich dem Kulturkontakt und dem Kulturaustausch zwischen Griechenland und dem Vorderen Orient. Ziel des Kolloquiums war es, einen Überblick über den derzeitigen Forschungsstand zu gewinnen.
Veröffentlicht werden 17 Aufsätze, mehrheitlich auf Deutsch, einige auf Englisch und ein einziger auf Französisch. Thematisch werden die Bereiche der Archäologie, der Geschichte und der Philologie in ausgeglichener Breite behandelt. Neben Überblicksartikeln zur bisherigen Forschung (siehe den Beitrag von Susan Sherratt, »The history of East Mediterranean and Aegean interaction: some when, how and why questions«, 3–13) werden spezielle Einzelfragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und neue, weiterführende Fragen aufgeworfen. Einige der Autoren scheuen sich nicht, auch unbequeme und neue Wege der Interpretation zu beschreiten, um scheinbar aussichtslos festgefahrene Diskussionen neu zu beleben (z. B. Norbert Oettinger über die Herkunft der Seevölker, »Invasion und Assimilation von Griechen in Kilikien. Konsequenzen aus den Berichten über Mopsos/Muksas«, 127–133; oder Michael Weißl zur Frage nach einer Beeinflussung griechischer Tempelarchitektur durch ägyptische Vorbilder: »Die großen ionischen Heiligtümer an der Grenze Lydiens«, 201–228). Darüber hinaus werden der gegenwärtigen Forschung kritische Impulse gegeben (siehe besonders den Beitrag von Kurt A. Raaflaub, »Das frühe politische Denken der Griechen im interkulturellen Zusam­menhang des Mittelmeerraumes«, 241–266). Das Sammelwerk sollte daher für einen breiten Leserkreis von Interesse sein. Ein Bezug zum Gesamtthema ist bei jedem Artikel erkennbar – wenn auch nicht immer offensichtlich. Geographisch wird be­sonders der östliche Mittelmeerraum in den Blick genommen.
Die Artikel sind von unterschiedlicher Qualität, wobei hier drei bemerkenswerte und weiterführende Darstellungen hervorgehoben werden sollen:
Der Beitrag »Phoenicia and the Mediterranean: New Evidence from Recent Excavation in Lebanon« von Hélène Sader (15–29) hilft, eine Forschungslücke zu schließen: Geschichte und Archäologie der Phönizier seien zwar weitgehend erforscht, jedoch stammte ein großer Teil der Erkenntnisse aus den Kolonien. Hingegen gebe es große Lücken in der archäologischen Forschung über das phönizische Kernland. Sader stellt nicht nur die Ergebnisse der Ausgrabungen auf dem Tell el-Burak, in Sidon und Beirut vor, sondern ihr gelingt es auch, am Beispiel der Nekropole von Tyrus zu zei-gen, dass einige westliche Begräbnissitten einen orientalischen Ur­sprung haben (so z. B. das Zerschlagen von Geschirr nach dem Totenmahl oder das Aufstellen von Stelen als Grabsteine). Sie be­schreibt den bedeutenden Einfluss Phöniziens auf das mediterrane Umfeld und den durch das gesamte erste vorchristliche Jahrtausend ununterbrochenen Kontakt zwischen dem phönizischen Kernland und Nordafrika, Zypern und der Ägäis.
Der Artikel »Bunte Barbaren. Zu den thebanischen Fremdvölkerdarstellungen und ihren historischen Voraussetzungen« von Diamantis Panagiotopoulos (31–47) widmet sich den insgesamt 37 thebanischen Fremdvölkerdarstellungen aus 27 unterschiedlichen Gräbern und plädiert für deren historischen Aussagewert. Es handle sich hierbei nicht um ›Staatspropaganda‹, sondern um eine Selbstthematisierung der Verstorbenen. Daher zeigten die Darstellungen mehr oder weniger getreue Illustrationen der Wirklichkeit. Panagiotopoulos legt besonderes Augenmerk auf die bei den Zeremonien dargestellten Personengruppen und die jeweils dargebrachten Gaben. Anhand dieser Quelle lasse sich deutlich machen, dass es Austausch (nicht nur im materiellen Sinne, sondern auch auf kulturell inspirierender Ebene) zwischen ägäischen Beamten und hohen ägyptischen Repräsentanten gegeben habe.
Im Beitrag »Strukturiertes Gedächtnis. Zur Überlieferung der Troia-Geschichte durch die ›Dunklen Jahrhunderte‹« von Joachim Latacz (135–166) wird dargelegt, dass nach dem Untergang der Pa­-läste und dem Ende der Linear B-Schrift um 1200 v. Chr. eine Zeit der Schriftlosigkeit gefolgt sei, die erst um 800 v. Chr. mit der Übernahme der Alphabetschrift ein Ende gefunden habe. Latacz beschäftigt sich mit der Frage, wie über diese Zeit hinweg literarische Werke, wie die Homers, tradiert worden sein könnten. Er plädiert für die hexametrische Dichtung als Trägerin solcher Überlieferungen und legt dar, dass die Hexameterdichtung eigenständig neben Linear B existiert habe. Daher sei sie auch vom Untergang der Linear B-Schrift unberührt geblieben und durch die »Dunklen Jahrhunderte« zum Garanten der Vergangenheitsbewahrung geworden.
Bedauerlicherweise finden sich in diesem fünf (!) Jahre nach dem zugrunde liegenden Kolloquium herausgegebenen Sammelband gehäuft Formatierungsfehler (u. a. Zeilenumbrüche, die mitten im Fließtext stehen), so dass das Lesevergnügen zuweilen ein wenig getrübt wird. Die Abbildungen sind in der Regel hilfreich und weiterführend – allerdings ist es unverständlich, dass diese alle am Ende des Buches zusammengefasst wurden und nicht in oder nach den einzelnen Artikeln angeordnet wurden.
Insgesamt gelingt es, einen umfassenden und abwechslungsreichen Forschungsüberblick über die kulturellen Beziehungen zwischen Griechenland und dem Vorderen Orient von der späten Bronzezeit bis zur frühen Eisenzeit zu liefern (warum nicht »Griechenland« im Titel auftaucht, sondern die »Anfänge Europas« bemüht werden müssen, erschließt sich allerdings nicht).