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Ausgabe:

Juli/August/2012

Spalte:

788–789

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Jursa, Michael

Titel/Untertitel:

Aspects of the Economic History of Babylonia in the First Millennium BC. Economic Geography, Economic Mentalities, Agriculture, the Use of Money and the Problem of Economic Growth. With contributions by J. Hackl, B. Jankovi, K. Kleber, E. E. Payne, C. Waerzeggers and M. Weszeli.

Verlag:

Münster: Ugarit-Verlag 2010. XVIII, 897 S. m. Abb. u. Tab. 24,0 x 16,8 cm = Alter Orient und Altes Testament, 377. Veröffentlichungen zur Wirtschaftsgeschichte Babyloniens im 1. Jahrtausend v. Chr., 4. Lw. EUR 136,00. ISBN 978-3-86835-041-8.

Rezensent:

Rainer Kessler

Der umfangreiche Band fasst die Forschungen eines Teams zusammen, das unter der Leitung von Michael Jursa 2002–2009 an der Universität Wien die Wirtschaftsgeschichte Babyloniens im 1. Jt. v. Chr. umfassend untersucht hat. Die Ergebnisse stellen nicht nur un­sere Kenntnisse im Rahmen dessen, was die – zu erheblichen Teilen bisher unpublizierten – epigraphischen und archäologischen Quellen hergeben, auf ein neues und festes Fundament. Sie führen auch in der Gesamtbewertung der wirtschaftlichen Gegebenheiten der untersuchten Epoche über bisher diskutierte Alternativen hinaus und stellen damit einen wichtigen Beitrag für die Wirtschaftsgeschichte der alten Welt insgesamt dar.
Der Fokus des Buches liegt dabei auf dem »langen 6. Jh.«, das sich zwischen dem Fall Assyriens am Ende des 7. Jh.s und dem babylonischen Aufstand gegen Xerxes im Jahr 484 erstreckt. Im Gegensatz zur Ereignisgeschichte stellt die Übernahme der Herrschaft durch die Perser 539 für die Wirtschaftsgeschichte keinen Einschnitt dar, während nach dem Aufstand von 484 die babylonischen Eliten aus ihren Positionen entfernt werden und ein deutlicher wirtschaftlicher Niedergang einsetzt.
In der bisherigen assyriologischen Forschung liegen vor allem Modelle zur Wirtschaft Mesopotamiens vor, die die Bedeutung der Tempel- und Palastwirtschaft herausstellen. In einer solchen Wirtschaftsweise dominiert Redistribution den Austausch: Tempel und Palast ziehen Arbeitskräfte und Güter an sich und geben im Austausch »Rationen« an die Arbeitenden und erbringen Leis­tungen für die Gemeinschaft. Direkte Reziprozität zwischen den Produzierenden und insbesondere der Austausch über Märkte treten demgegenüber völlig zurück. Man kann als Ergebnis des vorliegenden Bandes festhalten, dass dieses Bild für das 1. Jt. und besonders das 6. Jh. nicht haltbar ist. Marktaustausch spielt eine wesentliche Rolle, die Bedeutung der Tempel und des Palastes ist zwar groß, aber sie beherrscht keineswegs alles, und Tempel wie Palast sind selbst in den Austausch über Märkte eingebunden. Geld spielt eine weit größere Rolle, als in den bisherigen Modellen angenommen wurde.
Die Autoren bezeichnen das von ihnen präferierte Modell als commercialisation model (42). Demnach führt eine wachsende Be­völkerung zu kommerzieller Entwicklung und technischem Fortschritt. Urbanisierung spielt eine wesentliche Rolle; sie führt zu weiterer Arbeitsteilung und damit Erhöhung der Produktivität. Schließlich sind Märkte und mit Geld vermittelter Austausch wesentliche Elemente des Modells. Damit sind die Aufgaben für die Detailuntersuchungen des Buches gestellt, zu denen die Autorinnen und Autoren noch die Frage nach der Rolle des Staates hinzunehmen.
Auf die Einleitung, in der die Fragestellung entfaltet und die Richtung der Antwort angedeutet wird, folgen vier Kapitel, die ihren Gegenstand ins Detail gehend untersuchen. Es handelt sich um die Frage nach den Wegen der innerbabylonischen Kommunikation und des Güteraustauschs (Kapitel 2), nach ökonomischen Strategien und Investitionsmustern, die sich den Privatarchiven entnehmen lassen (Kapitel 3), nach der Landwirtschaft, ihren landschaftlichen Vorgaben, regionalen Ausprägungen und diachronen Entwicklungen (Kapitel 4) sowie nach der Rolle von Silber, Silbergeld und geldbasiertem Austausch (Kapitel 5).
Das abschließende 6. Kapitel zieht daraus die Schlussfolgerungen. Demnach bildet Babylonien im 6. Jh. einen integrierten Wirtschaftsraum, der zugleich beträchtliche regionale Unterschiede aufweist. Die Tempel besitzen zwar viel Land, bewirtschaften es aber ineffektiver als private Landbesitzer. Der private Wirtschaftssektor lässt sich in zwei Hauptgruppen differenzieren, die Rentiers, die ihr Land von anderen bearbeiten lassen, und die Entrepreneurs, die entweder Land verwalten oder Handel betreiben (764–768). Silber und Silbergeld spielen eine ungleich größere Rolle als noch im 2. Jt. Durch die neubabylonischen Eroberungen und später die persische Steuererhebung kommen große Mengen von Silber nach Babylonien, die dort in den Wirtschaftskreislauf eingehen und ihn prägen. Löhne werden in der Regel nicht mehr in Naturalien, sondern in Silber(geld) ausgezahlt.
Insgesamt ergibt sich für Babylonien im 6. Jh.: »its economy is structurally much closer to other Iron Age economies of the Eastern Mediterranean than to any of its southern Mesopotamian predecessors« (802). Zwar ist das 6. Jh. insofern eine Ausnahme, als danach ein wirtschaftlicher Rückgang zu beobachten ist. Gleichwohl markiert es einen ersten Schritt in einer Entwicklung, die dann in sassanidischer und frühislamischer Zeit zu weiteren Höhepunkten fortschreitet. Nach der Untersuchung diverser Faktoren, die Hinweise auf den Lebensstandard der Epoche geben, fasst der Herausgeber sein Bild Babylons im 6. Jh. in den Worten zusammen: »Taking its impetus from a felicitous combination of ecological, demographic, socio-economic and political factors, the economy was growing, the productivity of (frequently market-oriented) agriculture was increasing, a substantial part of the urban population worked in non-agrarian occupations, there was a high degree of labour specialisation, and the economy was largely monetised. The available indications for consumption patterns likewise point to a higher level of prosperity when compared to earlier periods of Babylonian history.« (815)
Da das materialreiche Buch, das sich in erster Linie an Altorientalisten und Wirtschaftshistoriker wendet, in einer theologischen Zeitung angezeigt wird, seien zwei Aspekte hervorgehoben, die für die alttestamentliche Wissenschaft von Interesse sind. Das eine ist die an sich bekannte Tatsache, »that Babylonia, and in particular the city of Babylon, became the centre of a massive flow of money and commodities: tribute levied by the Neo-Babylonian kings was brought there, and the huge city generated a constant demand for large quantities of consumables of all kind, including prestige goods« (61). Dass immer noch wenig darüber bekannt ist, wie die Babylonier die von ihnen beherrschten Regionen – also auch das ehemalige Juda und Israel – regierten, bleibt bedauerlich. Das Andere und Wichtigere ist das Bild der Wirtschaft des Gebietes, in das die jüdischen Deportierten gebracht wurden. Deportierte tragen zur Mehrung des Reichtums zunächst einmal vor allem als Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen bei. Die sich vor allem in den Mura šû-Archiven zeigende Integration jüdischer Menschen in das babylonische Wirtschaftsleben ist nach der vorliegenden Studie ausdrücklich eine Besonderheit der Region um Nippur (414–418): »Settlements of non-Babylonian groups which were integrated into the fabric of the state through the land-for-service system were a dominant feature of the hinterland only in this city, as far as we can tell« (760).
Jede weitere Forschung zur Lage der jüdischen Diaspora in Babylonien im 6. und 5. Jh. wird ihre Ergebnisse in die detailreichen Forschungsergebnisse des vorliegenden Bandes einzeichnen müssen.