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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

103 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Raiser, Konrad

Titel/Untertitel:

Wir stehen noch am Anfang. Ökumene in einer veränderten Welt.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1994. 169 S. 8o. Kart. DM 58,­. ISBN 3-579-02002-1.

Rezensent:

Günther Gaßmann

Die vorliegende Veröffentlichung des Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) enthält 15 Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1984-1992, von denen vier bisher unveröffentlicht waren. Der Vf. sieht in ihnen "in gewissem Sinn eine Rechenschaft von meinen ökumenischen Überzeugungen".

Die Beiträge sind in drei Gruppen zusammengefaßt. Die erste, "Horizonterweiterung", enthält Texte zur Einheit der Kirche. Die beiden ersten Einheitsvorstellungen mit der Erklärung zur Einheit der Kirche, die von der ÖRK-Vollversammlung 1991 in Canberra angenommen wurde. Anschließend wird in "Partnerschaft und Einheit" der Gedanke der Partnerschaft, des Teilens und Austauschs als Überwindung früherer Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Kirchen im Norden und im Süden entfaltet. Dieser Gedanke des Teilens wird theologisch und besonders ekklesiologisch weiter entwickelt und vertieft in "Teilen ­ ein Ursymbol des Lebens". Die ökumenische Aufnahme des Konzilsgedankens bis hin zum sogenannten "konziliaren Prozeß" (s.u.) wird in "Konzil und konziliarer Prozeß" beschrieben, wobei letzerer vom Vf. im Sinne eines Kommunikationsprozesses statt eines auf kirchliche Versammlungen mit verbindlichen Aussagen ausgerichteten Konzepts interpretiert wird.

"Weltverantwortung" ist das Thema der zweiten Gruppe von Beiträgen. "Erneuerung des ökumenischen Bundesschlusses" behandelt die Entwicklung ökumenischen sozialethischen Denkens seit Stockholm 1925 bis hin zum Vorschlag eines konziliaren Prozesses gegenseitiger Verpflichtung (Bund) für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung im Anschluß an die ÖRK-Vollversammlung 1983 in Vancouver. Die Entwicklung ökumenischer Sozialethik, diesmal konzentriert auf die Frage der Wirtschaftsordnung, wird in "Christentum und Wirtschftsordnung" mit dem Blick auf gegenwärtige Formen internationaler wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Abhängigkeit untersucht. Der Vortrag "Der Beitrag der Kirchen zu einer internationalen Friedensordnung" beschreibt diesen Beitrag auf dem Hintergrund ökumenischer Grundüberzeugungen zur Friedensethik. Der Text über "Bewahrung der Schöpfung ­ Herausforderung unseres Glaubens" entfaltet Schritte und Perspektiven solcher Bewahrung angesichts der gegenwärtigen technisch-wirtschaftlichen und zugleich geistig-geistlichen Umweltkrise. Der Beitrag über "Gottes Recht und Menschenrechte" gibt einen Überblick über die neuere ökumenische Diskussion über die Menschenrechte mit ihrer Perspektive einer Komplementarität zwischen individuellen und kollektiven Rechten.

Die dritte Gruppe von Beiträgen unter dem Oberthema "Gelebte Katholizität" wird eingeleitet mit "Leben im Geist ­ Spiritualität in weltweiter Verantwortung", einer Beschreibung neuerer ökumenischer Konzeptionen christlicher Spiritualität, der Praxis einer "innerweltlichen Transzendenz". Kontextuelle Herausforderungen für das heutige Bekennen des Glaubens in Kirchen in der südlichen Hemisphäre werden in "Bekennen und Bekenntnis heute" identifiziert und Kriterien glaubwürdigen Bekennens herausgearbeitet. Mit "Den Herrn Jesus Christus als Gott und Heiland bekennen" wird die sog. Basisformel des ÖRK zitiert und im Rahmen von deren Geschichte nach möglichen Erweiterungen (z.B. im Blick auf die Anerkennung der Menschlichkeit Christi) gefragt. "Christliche Identität im Angesicht Israels" beleuchtet kritisch, mit Verweisen auf die Geschichte des christlichen Antijudaismus, bestimmte ekklesiologische und christologische Vorstellungen und dogmengeschichtliche Entwicklungen (z.B. "Machtausübung durch Definition"). In "Das Problem des Synkretismus und die Suche nach einer ökumenischen Hermeneutik" wird die hermeneutische Frage der Begegnungen von Evangelium und Kultur mit der Suche nach einem gemeinsamen theologischen Verständnis des interreligiösen Dialogs in der Ökumene verbunden und Grundlinien einer ökumenischen Hermeneutik im Sinne eines offenen Prozesses ökumenischer Kommunikation und Kohärenz umrissen.

Gemeinsam ist fast allen Beiträgen, daß sie mit einem historischen Abriß der ökumenischen Diskussion über das jeweils zu verhandelnde Thema eingeleitet werden und den Analysen und Vorschlägen des Vf.s biblisch-theologische Überlegungen vorausgehen. Die Texte spiegeln die ökumenischen Überzeugungen Konrad Raisers wider, die bestimmt sind von einer kritischen Sicht kirchen- und theologiegeschichtlicher Entwicklungen, kirchlicher und anderer Traditionen und Institutionen, der "Großkirchen", der auf Konvergenz und Konsens ausgerichteten ökumenischen theologischen Gespräche und der auf verbindliche gemeinsame Aussagen hin orientierten Bemühungen im sozialethischen Bereich. Dem stellt der Vf., immer im Wissen um den Reichtum christlichen Denkens, seine befreiungstheologisch bestimmten Konzeptionen einer Theologie und Ökumene "von unten" gegenüber mit deren Akzentuierung auf offene, nicht auf Übereinstimmungen und Definitionen festgelegte kommunikative Prozesse, in denen unter der Führung des Heiligen Geistes dann auch Verbindlichkeit und Vielfalt ihren Platz finden werden. Ein Hauch von intelligenter "Schwärmerei" schwebt m.E. gelegentlich über diesen Beiträgen. Diese leisten aber mit ihren historischen Überblicken einen äußerst hilfreichen Beitrag zur Bewahrung und Vergegenwärtigung ökumenischer Geschichte, während ihre Analysen und Vorschläge bei Gleichgesinnten auf Zustimmung und bei anderen auf Kritik stoßen werden.