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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

743–745

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Wittram, Heinrich

Titel/Untertitel:

Einblicke in die baltische Kirchengeschichte. Bewährungsproben in einer Ostseeregion.

Verlag:

Rheinbach: CMZ-Verlag 2011. 544 S. m. Abb. u. Tab. 21,0 x 13,5 cm = Dokumente aus Theologie und Kirche, 9. Geb. EUR 29,80. ISBN 978-3-87062-125-4.

Rezensent:

Reinhard Slenczka

Kirchengeschichte, wenn sie denn als theologische Disziplin betrieben wird, hat es mit den Wirkungen des Heiligen Geistes zu tun, der zu Pfingsten ausgegossen wurde. Er gibt den Mut zur Verkündigung der Auferstehung Jesu Christi und dazu das Verständnis in allen Sprachen der Welt. Die Geschichte der Kirche im Baltikum ist ein lebendiges Zeugnis für dieses Geschehen in unserer Gegenwart. Es wird uns das Wunder vor Augen geführt, wie der Herr die Verheißung für seine Kirche erfüllt: »Die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.« (Mt 16,18)
Heinrich Wittram (*1931) hat in Gemeinschaft mit seinem Vater, dem Historiker Reinhard Wittram (1902–1973), seit seiner Studienzeit und neben seinen kirchlichen Ämtern das Zeugnis der »Erlebnisgeneration der Deutschbalten« (221) erforscht und in zahlreichen Arbeiten in Erinnerung gebracht. Besonders zu erwähnen ist seine Dissertation »Die Kirche bei Theodosius Harnack« (Göttingen 1963). 17 weit gestreute Aufsätze und Vorträge sind in diesem Band zu seinem 80. Geburtstag zusammengestellt und veröffentlicht. Aus den Einzelbeiträgen zu »Kirche und Wissenschaft 1721–1918« und zu »Kirche und Theologie 1920 bis zur Gegenwart« ergibt sich ein sicher nicht vollständiger, doch reichhaltiger und vor allem in vielerlei Hinsicht bedenkenswerter Überblick über das Geschick der Kirche im Baltikum: »Die Aufsätze wollen den Versuch unternehmen, dem Gelingen oder Misslingen dieser mannigfachen Bewährungsproben nachzugehen. Sie wollen sich auch den Fragen nach einer Bewährung in besonderen Leidenssituationen öffnen, wie sie den Christen im Baltikum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgegeben waren.« (13) Dahinter steht das Nationalitätenproblem im russischen multiethnischen Reich und der militante Atheismus der Sowjetherrschaft; zudem war das Baltikum seit Jahrhunderten ständiger Kriegsschauplatz mit daraus folgender Zerstörung, Vertreibung und Unterdrückung. Ein Leitmotiv in den beiden Epochen, nach denen die Beiträge gegliedert sind, ist das Verhältnis von theologischer Wissenschaft und kirchlicher Wirklichkeit. Das reicht bis in unsere unmittelbare Gegenwart.
Für den betrachtenden und zumal für einen deutschbaltischen Historiker stellen sich vor dem Hintergrund dieses wechselvollen Geschehens die Fragen nach Schuld und Versagen. In den zitierten Quellen wiederholt sich in fast allen Beiträgen die Frage nach einer geistlichen Deutung der Geschichte unter Gericht und Gnade Gottes. Das mag für manchen heute befremdlich, vielleicht sogar unzulässig scheinen. Doch darin liegt durchgehend das Zeugnis dieser Beiträge, zumal wenn man sieht, wie immer wieder die äußere Kirchenorganisation und damit auch die theologischen Fakultäten durch Verfolgung, durch äußere und innere Anfechtung zerstört worden sind. Dass z. B. die Evangelisch-Lutherische Kirche Lettlands in dem halben Jahrhundert der Sowjetherrschaft etwa 80 % ihrer Pfarrer verloren hat, ist bis heute spürbar, zumal an dem relativ niedrigen Durchschnittsalter von Pfarrerschaft und Kirchenleitung. Die meisten von ihnen mussten für ihren Lebensunterhalt auch schon während der Ausbildung einen weltlichen Beruf ausüben. Wo die Kirche sich nicht auf die umgebende Gesellschaft stützen kann, indem sie meint, sich ihr anpassen zu müssen, da ist es die gottesdienstliche Versammlung der Gemeinde, oft genug auch ohne Pfarrer, und es ist das in tieferem Sinne »leuchtende« (Dan 12,3) Beispiel Einzelner, in dem sich das Fortwirken des Heiligen Geistes manifestiert. Bis heute wirkt diese Glaubenserfahrung in den Gemeinden nach, zumal unter Laien, allerdings meist auch verbunden mit einer Zurückhaltung gegenüber einer zentralen Kirchenleitung, aber auch gegenüber einer liberalen akademischen Theologie, soweit sie gesellschaftspolitischen Strömungen und Forderungen erliegen. Aus den Erfahrungen der Sowjet-union kamen in Gemeinden und Pfarrerschaft auch Vorbehalte gegenüber einer Europaunion.
Neben vielen Namen, die erwähnt werden, sind drei besonders ausführlich und eindringlich behandelt, indem ihr Glaubens- und Lebenszeugnis in der Geschichtsschreibung erhalten wird und auf diese Weise weiterwirkt: 1. Traugott Hahn jr. (1875–1919). Auf wenigen Seiten (113–119) leuchtet das Zeugnis auf, wobei der Vf. auf unveröffentlichte, im Staatsarchiv Dorpat erhaltene Predigtmanuskripte aus den Jahren kurz vor seiner Ermordung zu­rückgreifen kann. Zu diesem Zeugnis gehört die scharfe Ablehnung eines religiösen Liberalismus, der das Christentum zu einer bloßen Lebensverzierung und gesellschaftspolitischen Nützlichkeit macht: »Selig wird keiner durch Religion, selig wird man nur durch Glauben.« (115) Die baltischen Theologen haben nicht nur gewusst, sondern erfahren und bezeugt, was »die Kreuzesgestalt« der Kirche ist (75 f.).
Der zweite Zeuge ist Herbert Girgensohn (1887–1963). Als Seelsorger wie als theologischer Lehrer begleitete er tröstend, mahnend, wie auch mit der Organisation von Hilfsaktionen die doppelte Vertreibung der Deutschbalten aus dem Baltikum in den »Warthegau« und von dort nach Deutschland. Auch in dieser knappen Darstellung (399–438) leuchten geistliche Einsichten auf, wie sie gerade in Verfolgungs- und Leidenszeiten geschenkt werden: »Abgelehnt wird Religion da, wo sie nicht um ihrer selbst willen gesucht, ge­predigt, getan wird, wo sie zu politischer, nationaler oder anderer Stimmungsmache benutzt wird.« (402) Gerade auch in der bitteren Not der Vertriebenen hat Girgensohn immer wieder zur Einsicht in menschliche Schuld und Gericht Gottes angeleitet. In diesem Abschnitt wie auch an anderen Stellen finden sich Hinweise darauf, wie die Glaubenserfahrung unter Verfolgung und Vertreibung of­fenbar unvereinbar ist mit einer »Gemeinde von Gewohnheitschris­ten in kirchenrechtlich-verwaltungstechnischem Sinne.« (414 f.) Damit wird auf etwas hingewiesen, was leider bis heute die Begegnung mit den Märtyrerkirchen nicht nur im Osten belastet, zumal wenn die gute und notwendige zwischenkirchliche Hilfe mit gesellschaftspolitischen Forderungen – leider auch aus der EKD – verbunden wird.
Das dritte bewegende Zeugnis betrifft den russlanddeutschen Theologen Eduard Steinwand (1890–1960) (439–464). Er hat das Elend der Wolgadeutschen miterlebt und dann die Leiden der Deutschbalten geteilt. Wer ihn kannte, der konnte erfahren, was geistliche Erfahrung für akademische Theologie bewirken kann.
Ein letzter Hinweis zu dem letzten Beitrag »Aus getrennten Räumen zu neuem Miteinander. Fünfzig Jahre kirchengeschicht­liche Forschung zu den baltischen Ländern Estland und Lettland« (495–519). Das Verhältnis von akademischer Theologie und kirchlicher Gemeindefrömmigkeit ist im Baltikum bis heute – gelinde gesagt – nicht ohne Spannungen. Das gilt für die theologischen Fakultäten in Dorpat, in Riga wie auch in Klaipeda. Infolgedessen haben sämtliche Kirchen neben den staatlichen Fakultäten eigene kirchliche Hochschulen eingerichtet, als letzte 1997 (nicht 1998) die Luther-Akademie in Riga (294). Obwohl die Beiträge bis zum Jahr 2007 reichen, hätte man einiges Interessante zur Kirchengeschichte erwähnen können wie z. B. die Tatsache, dass in Lettland fast die Hälfte der amtierenden Pfarrer Absolventen der Luther-Akademie sind, dass viele Religionslehrerinnen an staatlichen Schulen und Katechetinnen hier ausgebildet wurden, dazu Gemeindemitar­beiter, Kirchenmusikerinnen u. a. m. Gezielt haben sich mehrere Absolventen in ihren Abschlussarbeiten mit der Auswertung von – soweit noch vorhanden – Gemeindearchiven und Berichten von Zeitzeugen beschäftigt. Zudem wurde eine Bibliothek aufgebaut, die im Baltikum nicht ihresgleichen hat.
Kirche im Baltikum ist eine Märtyrerkirche, also eine Zeugenkirche. Dass historische Forschung diese Dimension in Erinnerung bringt, ist ein wichtiger Beitrag der Deutschbalten und dieses Buchs für unsere Zeit.