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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

737–739

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Pohl-Patalong, Uta

Titel/Untertitel:

Gottesdienst erleben. Empirische Ein­sichten zum evangelischen Gottesdienst.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 232 S. 23,2 x 15,5 cm. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-17-021730-0.

Rezensent:

Hanns Kerner

Mit ihrer qualitativen empirischen Untersuchung zur Erlebnisdimension des Gottesdienstes will Uta Pohl-Patalong die bisher erhobenen Einsichten erweitern. Ihr geht es um eine »vertiefte Wahrnehmung dessen, was eigentlich für die Teilnehmenden im Gottesdienst geschieht.« (7) Nach einer sachkundigen Einführung in die praktisch-theologische Diskussion über den Gottesdienst und einer knappen Skizze der bisherigen empirischen Forschung auf diesem Feld legt die Vfn. ihren Forschungsansatz dar. Für die Befragung wählt sie eine Kombination aus Leitfragen und einzelnen offenen Erzählimpulsen. Die 22 Interviewpartner sind nach den Kriterien Gottesdienstbesuch, Zugänge zum Gottesdienst, Alter, Geschlecht, regionale Verteilung (15 aus Norddeutschland, vier aus Süddeutschland, drei aus Ostdeutschland), Stadt/Land und schließlich nach Lebensstilen ausgesucht. Für Letztere übernimmt sie die Lebensstileinteilung der IV. EKD-Mitgliedschaftsstudie.
Da »Erleben« die Leitkategorie ihrer Studie ist, gibt die Vfn. einen kurzen Überblick über die Verwendung des Erlebnisbegriffs in Psychologie, Philosophie, Soziologie und Theologie. Für ihre Studie grenzt sie Erleben »von den mit dem ›Erlebnis‹ verbundenen Konnotationen [ab]: Gottesdienstliches Erleben […] meint die subjektive, emotional grundierte Wahrnehmung des Phänomens Gottesdienst.« (93) Für die Strukturierung ihrer Darstellung identifiziert sie »Logiken der Erlebens« (94), in denen sich tendenziell zusam­mengehörige Aussagen bündeln.
Bei der Darstellung der empirischen Ergebnisse geht die Vfn. in einem ersten Schritt ausführlich an den einzelnen Elementen des Gottesdienstes entlang. Für jedes Element stellt sie die verschie­denen Erlebnislogiken dar. Sie sind es wert, aufmerksam gelesen zu werden. Es werden jeweils Gemeinsamkeiten, aber auch tiefgreifende Unterschiede im subjektiven Erleben der Interviewten sichtbar. Auch die einzelnen Stücke des Gottesdienstes werden sehr unterschiedlich erfahren. So werden die Musik, die Predigt und der Segen als sehr erlebnisstark beschrieben, dagegen fallen Gebete und insbesondere das Abendmahl stark ab. Herauszuheben ist auch, dass die Begrüßung an der Kirchentür wesentlich stärker emotional besetzt zu sein scheint als die Begrüßung durch den Pfarrer bzw. die Pfarrerin. Auch der Stille wird eine sehr hohe Erlebnisqualität zugesprochen. Durchgängig sind bei der Darstellung auch die Ergebnisse anderer Untersuchungen zum Gottesdienst präsent.
In einem zweiten Schritt nimmt die Vfn. andere Faktoren, die eine Rolle im Gottesdienst spielen, in den Blick. Dabei geht sie zuerst auf die Leitungspersonen ein. Die verschiedenen Wahrnehmungen zu Pfarrern und Pfarrerinnen durch die Interviewten (Mensch unter Menschen, Vorbild, [Nicht-]Sympathieträger[in], authentische Persönlichkeit, Kompetenz) zeigen besonders gut die Vielfältigkeit und zum Teil auch Widersprüchlichkeit der Erlebnislogiken der Interviewten auf, die ja sämtlich für den Mitvollzug des Gottesdienstes bedeutsam sind. Ein wichtiges Ergebnis ist hier auch, dass an Ehrenamtliche hinsichtlich der Vorbildfunktion und der Kompetenz offensichtlich keine anderen Maßstäbe angelegt werden als an Pfarrerinnen und Pfarrer. Zum Kirchenraum muss festgehalten werden, dass dessen Bedeutung oft unterschätzt wird. Sowohl bezüglich der sozialen Kontakte als auch in Punkto Ge­meinschaft wird deutlich, dass die Erlebnislogiken sehr unterschiedlich und oft konträr sind. Zuletzt wird auch noch die hohe Bedeutung des Subjekts im Erleben des Gottesdienstes sichtbar.
In einem dritten Schritt wendet sich die Vfn. einigen theoretischen Postulaten des liturgiewissenschaftlichen Diskurses zu und überprüft diese anhand von Leitfragen, die jeweils verschiedene Pole benennen. Zur Frage, ob die Interviewten eher Trost oder Veränderungsimpulse für ihr Leben erwarten, zeigt sich ein geteiltes Bild, wobei sich eine Tendenz abzeichnet, den Veränderungsimpulsen mehr Raum zu widmen als Zuspruch und Trost. Zur Wahlmöglichkeit zwischen Alltagsdistanz und Alltagsbezug zeichnet sich ein sehr differenziertes Bild ab, insbesondere auch, weil mit dem Begriff Alltag sehr Unterschiedliches verbunden wird. Viele sprechen hier auf verschiedene Weise die Heraushebung aus dem Alltag an. Als letzter Punkt wird nach der Vorliebe für eine bloße Teilnahme oder eine Gestaltungsbeteiligung gefragt. Die sehr divergierenden Erlebnislogiken zeigen, dass »auch hier […] die empirischen Ergebnisse der Eindeutigkeit postulierenden praktisch-theologischen Forschung entgegen[stehen]«. (210)
Die Vfn. bietet zum Schluss eine »Zusammenfassende Auswertung« (211–219), die einen guten Überblick gibt. Zugleich benennt sie darin noch weitere Erkenntnisse und offene Fragen. Besonders interessant ist, wie die Vfn. mit der Tatsache umgeht, dass – wie bei den anderen empirischen Untersuchungen zum Gottesdienst – viele milieuübergreifende Aussagen gemacht wurden. Sie schlägt als vorläufige These vor, »die Milieuzugehörigkeit als eine wichtige Tendenz für den Zugang zum Gottesdienst und das gottesdienstliche Erleben zu verstehen« (214), und setzt sie somit nicht absolut. Kritisch hinterfragen möchte ich nach Abgleich der verschiedenen Interviewzitate hinsichtlich des agendarischen Sonntagsgottesdienstes und der alternativen Gottesdienstformen die von der Vfn. aufgestellte These: »Die Kirchenmitglieder verhalten sich gegen­-über beiden Formen gleich.« (213)
Der von der Vfn. gewählte Ansatz, das Erleben des Gottesdienstes zu betrachten und verschiedene Erlebnislogiken aufzuzeigen, erweist sich als sehr produktiv. Dem tut es auch keinen Abbruch, dass sich Erleben, Erwartung und Wiedergabe von Meinungen, die den Diskursen, in denen die Interviewten leben, geschuldet sind, immer wieder durchmischen. Selbst denjenigen, die empirischen Un­tersuchungen kritisch gegenüberstehen, ist das Buch vorbehaltlos zu empfehlen.