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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

733–735

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haese, Bernd-Michael, u. Uta Pohl-Patalong [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Volkskirche weiterdenken. Zukunftsperspektiven der Kirche in einer religiös pluralen Gesellschaft. M. Beiträgen v. K. Blaschke, S. Bo­bert, E. Buck, L. Emersleben, W. Grünberg, W. Härle, B.-M. Haese, K. Hansen, E. Herms, K. E. Nipkow, U. Pohl-Patalong, H. Rosenau, R. Schmidt-Rost, F. Schweitzer, K. Stock, U. Wagner-Rau.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 212 S. 23,2 x 15,5 cm. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-17-021236-7.

Rezensent:

Jan Hermelink

Mit diesem Band wird Reiner Preul, von 1986 bis 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie in Kiel, von seinem langjährigen Assistenten und von seiner Nachfolgerin zum 70. Geburtstag geehrt, und zwar durch Beiträge von – ganz überwiegend norddeutschen – Weggefährten, Kolleginnen und Schülern. Mit der Fokussierung auf das Konzept der »Volkskirche«, das einleitend skizziert wird und das fast alle Autorinnen und Autoren im Blick haben, liegt hier ein Sammelwerk vor, das nicht nur Preuls eigene Forschungsschwerpunkte aufnimmt, sondern das sich als ein profunder und höchst anregender Überblick zur gegenwärtigen Wirklichkeit der evangelischen Kirche in Deutschland wie ihrer theologischen Reflexion lesen lässt – und zwar auch dort, wo sich gemeinsame Schwerpunkte, sowie dort, wo sich überraschende Lücken zeigen.
Die Beiträge von W. Härle zur Semantik und Pragmatik des alltäglichen Redens von »Gott« in der Gegenwart, von H. Rosenau zu einer (existenziellen und weisheitlichen) Sprache des Glaubens heute, von E. Herms zur dogmatischen Präzisierung der Begriffe Volkskirche, Landeskirche, Nationalkirche, Freikirche und Konfessionskirche (diese beiden Konzepte werden recht kritisch beurteilt) sowie von K. Stock zu den Struktur- und Aufgabenanalogien von »Volkskirche und Volkspartei«, vor allem in sozialethischer Hinsicht – alle diese Beiträge spiegeln Preuls Interesse an einer engen Kooperation von Praktischer und Systematischer Theologie wider und dazu seine Überzeugung, dass der Gegenwartsbezug dieser beiden Disziplinen im Interesse an der (politischen) Kultur und nicht zuletzt an der religiösen (und theologischen) Sprache zum Ausdruck kommt.
Eine Reihe weiterer Beiträge, nicht wenige von Praktikern verfasst, reflektieren die strukturelle, soziale und institutionelle Vielfalt der gegenwärtigen Kirche: K. Blaschke bedenkt, durchaus kritisch, die rechtlichen Veränderungen in der nordelbischen und in der künftigen Nordkirche; U. Pohl-Patalong nimmt enzyklopädisch die Probleme, Prinzipien und künftigen Aufgaben der kirchlichen Leitungspraxis in den Blick; W. Grünberg akzentuiert die Programmatik der »Citykirche als Ernstfall der Volkskirche«; K. Hansen lotet, ebenfalls umfassend, die Chancen eines dezidiert pluralen kirchlichen Handelns in ländlichen Räumen aus; U. Wagner-Rau resümiert und kritisiert die pastoraltheologischen Ge­schlechterdebatten der Gegenwart und E. Buck gibt einen instruktiven Überblick über die religionskulturelle und kirchliche Situation in Ostdeutschland und plädiert für eine stärkere Ver­net­zung der verschiedenen institutionellen Akteure, vor allem im Bil­dungsbereich.
Alle diese Beiträge verbinden praktische Erfahrungen, subjek­tive Überzeugungen, empirisch-soziologische Einsichten sowie theologische und programmatische Re­flexionen. Damit bezeugen sie die Orientierungskraft von R. Preuls Verständnis der Praktischen Theologie. In Blick auf die Arbeitsfelder fällt freilich auf, dass die Kasualien und auch die Predigt, der der Jubilar diverse Arbeiten gewidmet hat, im ganzen Buch kaum zur Sprache kommen.
Deutlich aufgenommen wird dagegen Preuls Überzeugung, die Volkskirche habe insbesondere Theorie und Praxis von Bildungsprozessen zu akzentuieren. Mit den einschlägigen Herausforderungen beschäftigen sich (neben Hansen und Buck) sehr differenziert vier weitere Autoren: F. Schweitzer reflektiert Veränderungen des allgemeinen Bildungsverständnisses in ihren (ambivalenten) Auswirkungen auf die kirchliche Praxis; K.-E. Nipkow nimmt – kursorisch und recht kritisch – die Bedingungen und Vollzüge religionspädagogischer Praxis mit Jugendlichen und Erwachsenen in den Blick; L. Emersleben bedenkt die pluralen Arbeitsformen, Ziele und Gestalten der Konfirmandenarbeit und betont die Dimension persönlicher, voraussetzungsloser Wertschätzung; B.-M. Haese beschreibt äußere und innere Bedingungen des gegenwärtigen Religionsunterrichts, wozu u. a. ein »spiritual turn« gehört, und plädiert für einen konfessions- und gegebenenfalls auch religionsübergreifenden »Religionsunterricht für alle« im Kontext verschiedener religiös-institutioneller Angebote im schulischen Raum.
Konzeptionell am Rand, auch weniger anschlussfähig bleiben R. Schmidt-Rost, der den evangelischen Gottesdienst als Form des »Massenmediums ›Liebe‹« rekonstruiert, und S. Bobert, die den »Me­gatrend Spiritualität« vielleicht zu rasch auf seine Erscheinungsweisen in der Management-Literatur und in einer »christlichen Mystagogik« fokussiert.
Im Ganzen konkretisieren die Beiträge das Verständnis einer »Volkskirche«, die sich konzeptionell und strukturell dezidiert auf alle Menschen einstellt, die ihr angehören wollen (und sollen), die darum eine breite Partizipation an kirchlichen Vollzügen und Entscheidungen eröffnet und die sich – um einer umfassenden Kommunikation des Evangeliums willen – der sozialen, kulturellen und institutionellen Vielfalt der Gegenwart öffnet, ja diese gezielt fördert. Dieses von Preul konturierte Konzept wird im vorliegenden Band vor allem im Blick auf verschiedene Praxisfelder entfaltet und erprobt; auch »weitergedacht« wird es vor allem in praktischer Hinsicht. So erscheint die innere, organisatorische Pluralität als spezifische Herausforderung der Volkskirche (u. a. bei Stock, Pohl-Patalong, Haese) und ihre institutionelle Vernetzung mit anderen Akteuren tritt stärker in den Vordergrund (Buck, Schweitzer, Haese). Bemerkenswert ist, dass die gegenwärtigen Organisationsreformen hier kaum in den Blick kommen: Für ein Kirchenverständnis, das individuelle Mündigkeit sowie religiöse Pluralität hochschätzt, scheinen sie wenig bedeutsam.
Das Modell der evangelischen Volkskirche ist für Reiner Preul nicht zuletzt durch eine intensive theoretische, theologisch weitgreifende Begründung des Grundansatzes gekennzeichnet. In dieser Hinsicht wird im vorliegenden Band allerdings kaum »weitergedacht«. Zwar wird gelegentlich eine »geistliche« Profilierung gefordert (u. a. bei Blaschke, Pohl-Patalong, Nipkow, Schmidt-Rost) – wie diese allerdings aussehen sollte, und inwiefern damit auch eine Fortentwicklung des theologischen Selbstverständnisses der Volkskirche verbunden ist, das bleibt offen. Hier mag die strukturelle Grenze eines Sammelbandes erreicht sein – welchen Herausforderungen sich eine solche Weiterarbeit an der spezifischen Programmatik der Volkskirche zu stellen hat, das lässt die vorliegende Sammlung jedoch in eindrücklicher Vielfalt erkennen.