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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

731–733

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Deeg, Alexander

Titel/Untertitel:

Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamental­liturgik.

Verlag:

Göttingen/Oakville: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 590 S. m. Abb. u. Tab. 22,8 x 15,5 cm = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 68. Kart. EUR 86,95. ISBN 978-3-525-62414-2.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Mit seiner Erlanger Habilitationsschrift legt Alexander Deeg einen ambitionierten praktisch-theologischen Entwurf vor, der sowohl praktisch-theologisch im kulturwissenschaftlichen Sinne als auch theologisch im biblischen und dogmatischen (lutherischen) Sinne argumentiert. Schon der Begriff »Fundamentalliturgik« ist im evangelischen Bereich bisher durchaus ungewöhnlich. Es geht D. um die Bedingungen der Möglichkeit, liturgietheoretisch in Kir-che und Theologie sowie im Kontext von kulturwissenschaftlichen Debatten wahrnehmen und urteilen zu können. Der Diskussion der letzten Zeit entsprechend ist er besonders an dem Verhältnis von Liturgie und Predigt interessiert. Der Gefahr der protestan­tischen Predigtzentrierung und Intellektualisierung des Gottesdienstes soll ebenso gewehrt werden wie einer überkompensatorischen Tendenz zum Kultischen und Heiligen. Es geht stattdessen positiv – im gesamten Gottesdienst! – um die Spannung zwischen Verstehen und Ergriffensein, oder in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diktion, um das Wechselspiel von »Sinn- und Präsenzkultur« (438). Alle liturgischen Handlungssequenzen verorten sich nach D. »zwischen den Dimensionen Wort und Kult« und der Gottesdienst »kommt nicht vom Kult weg – so sehr dies spätestens seit der Aufklärungszeit im Protestantismus immer wieder versucht wurde.« (439)
Damit gelangt D. zu der These: »Evangelischer Gottesdienst, der – mit Luther – auf die Gott-menschliche Kommunikation in Gottes WORT bezogen ist, steht im Blick auf seine Gestaltseite notwendig im spannungsvollen Wechselspiel von Wort und Kult und kann als WortKult präzise beschrieben werden.« (444, Kursivierung, Kapitälchen und Schreibweise im Original) Dabei unterscheidet D. das »Wort« im Sinne der verbalen Zeichensprache vom »WORT« im Sinne Karl Barths als »die dreifache Gestalt dieses WORTES als offenbartem, offenbarem und verkündigtem Wort« (438). Das kultische Prinzip der Liturgie soll das Wort so verfremden, dass es vor der Intellektualisierung bewahrt wird, und das Wortprinzip soll die »totalisierende Präsenz und enthusiastische Tendenz des Kultus« verfremden.
Diese These wird im fünften Kapitel (328–452) in einer Zusam­menführung von theologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven erreicht und im sechsten Kapitel (455–549) fruchtbar gemacht. Der evangelische Gottesdienst wird als »WortKult« be­schrieben, wobei u. a. auf eine verbal und existenziell verstandene Theorie des Opfers als »Nahung« zurückgegriffen wird (471–477), wie sie zuletzt auch in Martin Nicols Buch »Weg im Geheimnis« (Göttingen 2009) herangezogen wurde. Praktische Konsequenzen be­stehen u. a. in einer inszenatorisch sorgfältigeren Lesepraxis (491–504). Ob sich der Begriff »WortKult« einbürgern wird, um den evangelischen Gottesdienst zu beschreiben, bezweifle ich allerdings. Die Wortbildung ist in ihrer Schreibweise spröde und wenig auf das reale Erleben des Gottesdienstes bezogen.
Dieser kritische Hinweis tut allerdings der These einer fundamentalen Verbindung von Wort und Inszenierung keinen Ab­bruch. D.s These geht eine ausführlich liturgiewissenschaftliche und kulturtheoretische Auseinandersetzung voraus, in der er sich als umfassend beschlagen in den aktuellen Diskussionen zeigt und problematische Entwicklungen notiert. Im ersten Kapitel (17–71) wird so der bisherige »Ausfall« der Fundamentalliturgik beklagt, ja sogar angemerkt, dass das Thema »Theologie« in der evangelischen Liturgik bisweilen »wie eine heiße Kartoffel« behandelt werde (22). Theologische Sätze will D. selbst abduktiv verstehen (65–71), als produktive Hypothesen, die sich in der liturgischen Praxis und Theorie immer erst bewähren, aber gerade deswegen auch gewagt werden müssen (70). Im umfangreichen zweiten Kapitel (72–228) werden die konzeptionellen Weichen gestellt. Von Luther ausgehend will D. die Problemstellungen der evangelischen Liturgik aufzeigen, die er in der »Schrift-Elimination durch das Wort der Predigt« (83–91) und der problematischen Zuordnung von Außen und Innen in der Subjektivitätskonzeption der Neuzeit (95–120) erkennt. Positiv gilt es, kerygmatische Kultkritik und Wiederentdeckung des Kultischen miteinander zu verbinden. Im dritten Kapitel (229–276) werden die angedeuteten Linien historisch vertieft, indem mit Aufklärung und Restauration sowie der älteren und jüngeren liturgischen Bewegung jeweils Pendelausschläge zwischen Subjektivität und Objektivität im Verhältnis von Wortgeschehen und Liturgie beschrieben werden (vgl. die zusammenfassende Skizze, 274). Das ebenfalls kürzere vierte Kapitel beschreibt vergleichbare Entwicklungen in der katholischen (278–313) und in der jüdischen Gottesdiensttheorie (313–327), bevor in dem zentralen und wichtigsten fünften Kapitel die Brücke zwischen Kulturwissenschaft und Theologie geschlagen und die eigene These entwickelt wird (328–452). Hier werden die Diskussionen um das Fremde, um die schwache Subjektivität sowie besonders um die Antithese von (intellektueller) Sinnkultur und (performativer) Präsenzkultur herangezogen, wie sie mit Erika Fischer-Lichte, Hans Ulrich Gumbrecht und Dieter Mersch verbunden sind. D. hat eine deutliche Sympathie für die ästhetisch argumentierenden Einsprüche gegen das Grundparadigma von Interpretieren und Verstehen, macht aber andererseits auch den bleibenden Wert des herkömmlichen geisteswissenschaftlichen Zugangs geltend, wie das seiner These vom »WortKult« entspricht.
Dieser vermittelnden Position ist auf jeden Fall zuzustimmen, weil es sich in der Ästhetik – nicht nur theologisch, sondern auch kulturwissenschaftlich! – immer um eine kritische Theorie handeln muss. (Die Entgegensetzung des Semiotischen und des Performativen bei Fischer-Lichte übersieht so die Dreistelligkeit des pragmatisch-philosophischen Zeichenbegriffes im Ausgang von Peirce; und diejenigen Autoren, die das Interpretieren und Verstehen denunzieren, übersehen, dass ihre eigenen Einwürfe die Interpretationen um eine weitere vermehren.)
Die Arbeit von D. hält sich dagegen von allen Einseitigkeiten frei und ist an einer Vermittlung von Liturgie und Predigt, Präsenz und Interpretation, Kult und Wort, Ästhetik und Dogmatik interessiert. In der Tat kann eine angemessene Gottesdienstlehre heute nur so formuliert werden, und die fundamentalliturgische Debatte in der evangelischen Theologie hat mit diesem Buch, das im Übrigen hervorragend fehlerkorrigiert ist, endlich begonnen. Zu diskutieren bleibt für mich vor allem die Subjektivitätskritik. Hier neigt die ästhetische, kulturwissenschaftliche und philosophische Gegenwartsdiskussion zu Karikaturen des »starken« Subjekts, und meine eigene Sympathie gehört noch deutlich mehr als das bei D. der Fall ist, der kritischen Einsicht und Rekonstruktion. Bildung ist und bleibt immer auch Aufklärung, und das gilt auch für liturgische Bildungsprozesse. Gewiss verläuft die Bildung eines liturgischen Gestus und Habitus nicht primär über Begriffe, sondern über Aisthesis und Einstimmung. Deuten und Verstehen ist nicht alles. Aber ohne das ist doch alles nichts, und der Subjektivität entgehen auch die Subjektivitätskritiker nicht.
Hinzu kommt der Umstand, dass es im Gottesdienst nicht um die Dialektik der Präsenz als solcher geht, sondern um die unmögliche Möglichkeit des Glaubens in der Präsenz. Zu Recht heißt es darum bei D.: »Es gilt die ›Präsenzseligkeit‹, die bisweilen im liturgischen Diskurs begegnet […], aufzubrechen. Das Entscheidende ist nicht die ›Präsenz‹ allein […], entscheidend sind vielmehr jene Momente der theologisch qualifizierten Präsenz, die in ihrer Entzogenheit zugleich Momente der Absenz sind.« (409)