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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

727–729

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wenz, Gunther

Titel/Untertitel:

Christus. Jesus und die Anfänge der Christologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 352 S. 23,2 x 15,5 cm = Studium Systematische Theologie, 5. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-525-56708-1.

Rezensent:

Helmut Hoping

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wenz, Gunther: Geist. Zum pneumatologischen Prozess altkirchlicher Lehrentwicklung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 379 S. 23,2 x 15,5 cm = Studium Systematische Theologie, 6. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-525-56710-4.


Im Rahmen seine mehrbändigen »Systematischen Theologie« legt der Münchener Theologe Gunther Wenz mit den angezeigten Bänden seine Christologie vor. Gegenstand von Band 5 der Syste­-ma­tischen Theologie sind die historische Jesusforschung und die Anfänge der Christologie; Band 6 behandelt die altkirchliche chris­tologisch-trinitätstheologische Lehrentwicklung als pneumatolog­ischen Prozess. Nach einer Einleitung zum Begriff des Christentums nach evangelischem Verständnis (7–26) gibt der Vf., ausgehend von Ostern als Urdatum der Christologie und der Jesus­tradition als Voraussetzung des Osterkerygmas (27–64), einen exzellenten Überblick zu Geschichte und aktuellem Stand der historischen Jesusforschung (65–141). Aus der Feder eines Systematischen Theologen dürfte es derzeit keine bessere Abhandlung zur historischen Jesusforschung von Samuel Reimarus und der Leben-Jesu-Forschung (Old Quest) über die radikale historische Skepsis Rudolf Bultmanns (No Quest) und die neue Rückfrage nach dem historischen Jesus (Ernst Käsemann u. a.: Second Quest) bis zur Third Quest der historischen Jesusforschung seit Mitte der 1980er Jahre (G. Vermes, D. Crossan u. a.) geben.
Beginnend mit den politischen und soziokulturellen Kontexten zeichnet der Vf. im Anschluss an den historischen Abriss zur historischen Jesusforschung ein plastisches Bild von Person und Botschaft Jesu – zwischen historischer Skepsis, die nur einige wenige Eckdaten des Lebens Jesu für gesichert hält, und einer historisch fragwürdigen Jesusbiographie, wie sie im popularwissenschaftlichen Bereich Mode ist. Der Vf. wendet sich gegen eine fragwürdige Antithetik von Apokalyptik und Eschatologie und situiert die eschatologische Botschaft Jesu mit guten Gründen in den Kontext der frühjüdischen Apokalyptik (160–201). Bei der Frage, welche christologischen Hoheitstitel der historische Jesus auf sich bezogen habe, verteidigt der Vf. die Verwendung des Menschensohntitels durch den historischen Jesus. Obschon er es für historisch wenig wahrscheinlich hält, dass sich Jesus am Ende seines Lebens zu seiner Messiaswürde bekannt hat (so manche Exegeten), könne man historisch doch von einem einzigartigen Sendungs- und Sohnes­bewusstsein Jesu ausgehen (231–236).
In der historischen Jesusforschung derzeit besonders virulent ist das Verhältnis Jesu zum jüdischen Gesetz. Jesus war ein frommer Jude, dessen Toraverständnis aber durch einen ethisch-reli­giösen Radikalismus bestimmt war, der punktuell zu vereinzelter Torakritik führte (Speisevorschriften, Sabbattora). Gut rabbinisch hat Jesus die Tora in den Dekalog und das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe zusammengefasst. Vor allem betonte Jesus die Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Sündern und wies die Ab­grenzung der Torafrommen gegenüber den Gesetzesbrechern zu­rück (259). Darin sieht der Vf. den inneren Grund für die Gefangennahme und Auslieferung Jesu, während er den äußeren Grund mit der Mehrheit der Exegeten in der Tempelaktion erkennt (272). Warum Jesus keine Sündenvergebungsvollmacht für sich beansprucht haben soll (255), ist nicht ganz einzusehen.
In der Frage des Todesverständnisses Jesu plädiert der Vf. für die von manchen Forschern bestrittene Vereinbarkeit von Reich-Gottes-Botschaft Jesu und einer Deutung des eigenen Todes als stellvertetender Sühne (274). Die Auferweckung Jesu versteht der Vf. als Handeln Gottes am Gekreuzigten und Begrabenen. Es handelt sich bei der Auferweckung Jesu nicht um ein zeitjenseitiges, sondern um ein geschichtliches Ereignis. Der Vf. verteidigt die Historizität des leeren Grabes als Zeichen der leiblichen Auferweckung Jesu, dessen Leichnam die Verwesung nicht geschaut hat (297–300: gegenüber Gerd Lüdemann u. a.). Das Osterereignis als Urdatum der Christologie führt den Vf. zu einer Theologie des auferweckten Gekreuzigten, der »für uns« gestorben ist. Sie bildet zusammen mit einer Theologie des Heiligen Geistes und der Parusie Christi die Gelenkstelle, die historische Jesusforschung und altkirchliche Lehrentwicklung miteinander verbindet.
Letztere ist Thema des sechsten Bandes der »Systematischen Theo­logie«, der nach einer Einleitung, die eine Kurzzusammenfassung des vorangehenden Bandes liefert (7–28), mit dem Pfingstereignis neu einsetzt (29–48). Die altkirchliche Lehrbildung betrachtet der Vf. als pneumatologischen Prozess. Er rekonstruiert die Lehrent­wick­lung nicht als glaubensneutraler Historiker, sondern als Theo­loge: Das österliche Pfingstereignis lässt aus den Jesusjüngern eine die Grenzen des Erdkreises umspannende Kirchengemeinschaft werden, deren Christusglaube sich im altkirchlichen Dogma niederschlägt (27). Den Fluchtpunkt der altkirchlichen Lehrentwicklung sieht der Vf. in den Konzilien von Nizäa (325), Konstantinopel (381) und Chalcedon (451). Die Genese der Lehrgestalt des Christentums betrachtet der Vf. in traditionsgeschichtlicher Perspektive mit Blick auf den ökumenisch bedeutsamen consensus quinquesaecularis (40). Die Rekonstruktion der altkirchlichen Lehrbildung umfasst die Ka­nonbildung und das Evangelium Jesu Christi als Mitte des Kanons (124–250), die Apostolischen Väter und Apologeten (251–271), die Lo­goschristologie und Trinitätslehre (272–292), die Wesenseinheit der trinitarischen Hypostasen und die Person des Gottmenschen Jesus Christus (293–309). Wie ein Appendix wirken die beiden kurzen Schlusskapitel zu den schulmäßigen Rezeptionsgestalten des altkirchlichen Dogmas (310–329) sowie zur altkirchlichen, mittelalterlichen und reformatorischen Soteriologie (330–351).
Es ist nicht möglich, die vom Vf. vorgenommene Rekonstruktion der altkirchlichen Lehrbildung hier im Einzelnen vorzustellen. Es handelt sich um eine weitgehend überzeugende Rekonstruk­tion. An einigen Stellen ergeben sich für den Rezensenten freilich Rück-fragen, die zum Teil mit seiner katholischen Konfession zu tun haben. Zwar geht der Vf. von einer vorösterlichen Einsetzung der »Zwölf« durch Jesus aus (59), doch bleibt die Bedeutung der »Zwölf« für die Entstehung der Kirche Christi unklar; der Vf. spricht von einer »Symbolgruppe« für die Sammlung Israels. Den normativen Apostelbegriff hält der Vf. für nachösterlich, ja für einen theolo­gischen Reflexionsbegriff des nachapostolischen Zeitalters (75 f.), ohne dies exegetisch zwingend nachzuweisen. Bei den außerkanonischen Schriften, die für den Apostelbegriff bedeutend wurden, verweist der Vf. auf die Didache und die Traditio apostolica. Der in der Ökumene erfahrene und engagierte Vf. geht nicht so weit, das sich noch in neutestamentlicher Zeit herausbildende dreigliedrige Amt der Diakone, Presbyter und Episkopen sowie die amtliche Ordination durch Handauflegung und Gebet als »frühkatholisch« abzuqualifizieren. Ganz im Gegenteil betont er die Bedeutung des ordinationsgebundenen Amtes und der sedes apostolicae.
Bei der Kanonbildung würdigt der Vf. den christlichen Kanonentscheid, »der Altes und Neues Testament auf differenzierte Weise« verschränkt (127) und damit das Christentum für immer an die Bibel Israels bindet. Dass die neutestamentlichen Schriften sich allein wegen ihres Inhalts in den frühchristlichen Gottesdienst­gemeinden durchgesetzt haben, mag man bezweifeln, wenn man etwa den theologisch eher bescheidenen dritten Jo­hannesbrief mit dem ersten Clemensbrief vergleicht. Das Moment der apos­tolischen Pseudepigraphie dürfte hier wohl etwas zu gering veranschlagt sein. In der Frage der neutestamentlichen Kanongeschichte betont der Vf. sehr stark die »faktische Selbstdurchsetzung« gegenüber der »förmlichen Kanonisierung« durch die Kirche. Von der Plausibilität dieser These hängt das reformatorische Schriftprinzip ab.
Gegenüber Ernst Käsemann und Herbert Braun verteidigt der Vf. die konzeptionelle Vielfalt und Einheit der Schriften des neutestamentlichen Kanons (173–178). So wenig allein der Finaltext entscheidend ist, so wenig kann eine Theologie des Neuen Testamentes sich damit begnügen, Text- und Traditionsbestände einander lediglich äußerlich zuzuordnen. Das Evangelium Jesu Christi ist die Mitte des neutestamentlichen Kanons und integriert seine Schriften zu einem systematischen Ganzen (181). Mit Christoph Markschies relativiert der Vf. die Bedeutung des Monepiskopats für die Identitätsbildung des antiken Christentums (185). Vielfalt und Einheit des neutesta mentlichen Kerygmas sind durch eine Theologie des Urchristentums von innen heraus als differenzierter Zusammenhang aufzuweisen (194). Der Vf. sieht aber sehr genau, dass die historisch-kritische Exegese zu einer Krise des reformatorischen Schriftprinzips geführt hat. Nicht dass es grundsätzlich infrage gestellt worden sei. Doch Schriftauslegung geschieht immer schon im Kontext einer Rezeptions- und Interpretationsgemeinschaft (Kirche – Kirchen). Zwischen der evangelischen und katholischen Schrifthermeneutik existieren hier deutliche Unterschiede, was etwa die Zuordnung von Schrift und Tradition betrifft (172). Doch unbestreitbar bildet das Evangelium Jesu Christi die Mitte der Schrift und einer gesamt­-biblischen Theologie, mag ihre Bestimmung auch mit unterschiedlichen konfessionellen Akzentsetzungen erfolgen (vgl. 233–250).
Die der altkirchlichen Lehrentwicklung im engeren Sinne ge­widmeten Kapitel sind hevorragend gearbeitet und geben in komprimierter Form einen zuverlässigen Einblick in die Entstehung des christologisch-trinitarischen Dogmas, von der Logoslehre des 2. Jh.s bis zur kunstvollen Definition der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur in der Person des menschgewordenen Logos auf dem Konzil von Chalcedon (251–309). »Obwohl im Neuen Testament nicht förmlich entwickelt liegen die Trinitätslehre und das christologische Dogma der Alten Kirche dennoch in der Konsequenz seines Inhalts, den sie auslegen und gedanklich zu erfassen suchen.« (276) – So beschreibt der Vf. die grundlegende These seiner Beurteilung der altkirchlichen Lehrentwicklung. Die altkirchliche Lehrentwicklung formuliert aus, was im Neuen Testament grundsätzlich angelegt ist.
Mit den angezeigten Büchern ergänzt der Vf. seine »Systema­tische Theologie« um zwei zentrale Bände. Schon jetzt lässt sich sagen, dass diese »Systematische Theologie« ihren Platz in der zentralen Studienliteratur finden wird. In großer Gelehrsamkeit wird die christliche Glaubenslehre mithilfe einer historischen Erschließung von Traditionszusammenhängen in reformatorischer Perspektive systematisierend dargestellt. Eine stärkere Berücksichtigung neuerer christologischer Beiträge katholischer Autoren (Karl-Heinz Menke u. a.) wäre wünschenswert gewesen.