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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

725–726

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dober, Hans Martin

Titel/Untertitel:

»Reflektierender Glaube«. Die Vernunft der Religion in klassischen Positionen.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. 248 S. 23,5 x 15,5 cm. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-8260-4731-2.

Rezensent:

Frank Thomas Brinkmann

Die Praktische Theologie hat sich in den letzten Jahrzehnten recht ruhig verhalten, wenn in ihren Reihen und an ihren Rändern funktionalistische Religionstheorien bzw. funktionale Religionsbegriffe in Anschlag gebracht wurden. Wo gezeigt werden konnte, dass es für eine bestimmte Religion kein Äquivalent gibt, eben weil es eine religiöse Funktion auch nur innerhalb eines religiösen Konstellationsrasters geben kann, drohte wenig Gefahr. Und wo man ohnehin daran arbeitete, von einem normativ-substanziellen Begriff (oder gar einem Verständnis kirchlicher Offenbarungsreligion) ab­zurücken, um kulturtheoretisch anschlussfähig zu bleiben, kamen alle (kultur-)anthropologisch und soziologisch angeregten funktionalen Bestimmungen gelegen.
Nun aber weht eisiger Wind in die Gesichter all derer, die eben genau mit funktionalen Begriffen die »Wiederkehr der Religion« hatten feiern wollen: Peter Sloterdijk erklärt ihnen, dass es überhaupt keine Religion gibt, sondern allein »spirituelle Übungen« innerhalb des Funktionskreises eines (religiösen) »Immunsystems« – und empfiehlt, stattdessen das Regelwerk seines neuen Buches zu beherzigen: »Du musst dein Leben än­dern« (2009). Zu einer anderen Pointe kommt Herbert Schnädelbach, der der Religion zwar nicht die Existenz, so doch die Kraft absprechen will: abgestorben sind die religiösen Wurzeln, menschenverachtende Lehren haben sich erledigt; weil die »Religion in der modernen Welt« (2009) tot ist, wird »Profanität […] unser Schick­sal«.
Dagegen stellt sich Hans Martin Dober nun mit seiner Studie, knüpft aber interessanterweise dort an, wo er bei Schnädelbach noch die Substanz der christlichen Religion ernst genommen sieht. Dies will er nämlich als Herausforderung verstanden wissen, die theologische Kunst der Interpretation, des Denkens und Verstehens zu reflektieren – um wieder anschluss- und diskursfähige, weil vernünftige Lehrpointen aufwerfen zu können: Weil die funktionale Theorie selbst in ihrer radikalsten Konsequenz noch das menschliche Bedürfnis zur Sinnfrage zulassen muss, diesen Sinn aber eben nicht zu bestimmen in der Lage ist, »bedarf es der Theorien, die sich auf die Substanz der Religion einlassen« (19). Der Nerv seines Projekts ist somit offenbar, und auch sein Weg und seine Ziele sind rasch skizziert. Mit drei Klassikern möchte er sich auf den Weg machen, um mit Kant der »Moral der Religion« (25 f.), mit Schleiermacher der »Anschauung« und dem »Gefühl der Religion« (49 f.) und mit Hegel dem vernünftigen »Geist der Religion« (75 f.) Referenz zu erweisen.
Dass D. insbesondere die praktisch-theologische Beschäftigung mit Kant und Hegel für unzureichend empfunden hat, konnte man in seiner Sammelrezension zu den »Bezugswissenschaften der Praktischen Theologie« (VuF 55, 2010) bereits lesen.
Freilich ergibt sich aus dieser dreifachen Klärung eines »Wesens der Religion« noch kein Anhaltspunkt, der eine Substanzbestimmung nach der Religionskritik rechtfertigt bzw. ermöglicht. Sicher, Kants moralisch interpretiertes Christussymbol, Kampf des guten Prinzips gegen das Böse (37 f.), wäre so ein Teilmoment, auch Schleiermachers gerade anlässlich der Geburt des Erlösers aufleuchtendes Feuer unermesslichen Weihnachtsgefühls (72 f.), oder Hegels unendlich schwere Begegnung, in der endlicher Mensch und absoluter Gottgeist in Versöhnung zusammengehen (98 f.). Doch andererseits wiegen die Gegenargumente schwer; eine Substanz (des Denkens) zu beschreiben, sie aber gleichzeitig so exklusiv an die Subjektivität des Gefühls zu koppeln, macht sie sehr anfällig (106 f.). Denn mit dem gleichen Recht konnten ja auch Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud das Gegenteil behaupten – und entweder die apostrophierte Gott-Mensch-Synthese und die sinnlos verdoppelte Welt für eine Konstruktion erklären (115 f.), mit einer eigenen (Dionysos-)Konstruktion (134 f.) aufwarten oder die kollektive Zwangsneurose anprangern (154 f.).
Die entscheidende Frage ist also nicht wirklich geklärt: Welche Substanz, welche Idee, besser: welches Sinnintegral hält sich im Spannungsfeld von Vernunft, Moralität und Gefühl, von Objektivität, Nutzen und Subjektivität, und zwar mit einer solch zwingenden Logik, Plausibilität und Valenz, dass es sich auch im Blick auf Rückfragen – etwa nach sozialer Nutzbarkeit oder herrschaftsfreier Interessenlage – zu behaupten vermag?
Auf der Suche nach einer Antwort und nach einer Lösung schreitet D. den einmal eingeschlagenen Weg konsequent weiter ab; er geht von He­gel, allerdings eine Option Franz Rosenzweigs aufgreifend (169 f.), über eine Schleiermachersche Variation von Ulrich Barth (193 f.) hin auf eine neuen Lesart von Kant, der er bei Jacques Derrida begegnet ist. Und so findet die Hegelsche Vernunft in ihrer letzten Antithese, der Shoa, ihren endlichen Frieden und ihren allein wahren Gott, so nimmt der Religionsbegriff im Mo­ment der letzten, gesteigerten Dauerreflexivität seine einzig mögliche Gestalt als Lebensdeutung an, da wird aus dem moralischen Postulat der praktischen Vernunft das messianische Prinzip eines ungelösten Grenzortes, der zugleich als eine reale Utopie aufscheint.
Damit aber hat D. nicht nur einen gescheiten Versuch unternommen, die Frage nach Wesen und Substanz von drei gut reflektierten und argumentativ abgesicherten Positionen zu beantworten, sondern auch noch seinen Beitrag zu einer Religionstheorie geleistet, die über eine schlichte Christentumstauglichkeit hinausgeht.
Der respektvolle und wertschätzende Einbezug einer jü­-dischen Perspektive, aber auch die Offenheit gegenüber weiteren Diskursbeiträgen etwa von Seiten der dritten monotheistischen Religion macht D.s Ausführungen im Ergebnis zu einer Studie, von der nicht nur eine Praktische Theologie profitieren wird, wenn sie auf die Schwanengesänge radikalfunktionalistischer Religionskritiken reagieren muss.