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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

721–723

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian, u. Michael Murrmann-Kahl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010 (2., korr. Aufl. 2011). VIII, 415 S. 23,1 x 15,7 cm = Dogmatik in der Moderne, 1. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-150633-8.

Rezensent:

Helmut Hoping

Der inzwischen in zweiter, durchgesehener und korrigierter Auflage (2011) vorliegende Band zur Spannung zwischen historischer Jesusforschung und dogmatischer Christologie (1. Auflage 2010), herausgegeben von Christian Danz (Wien) und Michael Murrmann-Kahl (Wien und Neustadt/Donau), versammelt eine Reihe von Beiträgen evangelischer sowie zwei katholischer Theologen. Er geht zurück auf eine Tagung an der Wiener Evangelisch-Theolo­g­ischen Fakultät (2009) zum 70. Geburtstag von Falk Wagner († 1999). Wagners spekulative Theologie im Gefolge Hegels versuchte den Geist neuzeitlicher Subjektivität in die theologische Diskussion einzubringen und die religiöse Vorstellung in den philoso-phischen Begriff aufzuheben. Angesichts des recht vielschichtigen Bildes in den christologischen Debatten der Gegenwart, in denen es kein Einverständnis mehr über den Gegenstand der Christologie zu geben scheint, will der vorliegende Band das Gespräch darüber neu anstoßen.
Das erste Kapitel des Bandes umfasst zwei Beiträge zum »Stand der christologischen Debatte« in der protestantischen und katholischen Theologie (11–64).
Folkart Wittekind (Bochum) beleuchtet die Entwicklung der protestantischen Christologie von Ernst Troeltsch, Gerhard Ebeling und Wolfhart Pannenberg bis zu gegenwärtigen Konzeptionen einer Christologie unter den Bedingungen des religiösen und kulturellen Pluralismus und analysiert Tendenzen zu einer Christologie als Reflexion des aktualen Glaubensvollzugs (13–45). Die Christologie hat für Wittekind »keine dogmatische Funktion, sondern eine reflexive Funktion«, sie ist kein Inhalt des Glaubens, sondern (wenn auch nicht beliebiges) »bildliches Darstellungsmittel« (41). Kurt Appel (Wien) konzentriert sich auf einige neuere Beiträge katholischer Autoren (die Christologien von Helmut Hoping [2005] und Karl-Heinz Menke [2008] bleiben unberücksichtigt), ohne noch einmal auf die bedeutenden Ansätze von Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar und Walter Kasper einzugehen (47–64). Appel, der zu den neuen katholischen Christologien überraschenderweise auch das »schwache Denken« des postmodernen Philosophen Gianni Vattimo zählt (54), während die »Philosophie der Inkarnation« des katholischen Philosophen Michel Henry keinerlei Erwähnung findet, plädiert für eine »Christologie als gesellschaftliche und geschichtstheologische Denkform« (64), da Geschichte und Gesellschaft die Felder sind, auf denen sich die Christologie zu bewähren hat. Als Problemfelder markiert Appel »Christologie und Judentum«, »Christologie und Islam«, »Christologie und Naturphilosophie« sowie »Christentum und Gesellschaft«.
Das zweite Kapitel des Buches behandelt die »Debatte um den historischen Jesus und die dogmatische Christologie« (65–155).
Jens Schröter (Berlin) beginnt seinen Beitrag mit einem kurzen Überblick zur »Third Quest« der historischen Jesusforschung (D. Crossan, B. Chilton, E. P. Sanders, J. P. Meier u. a.) und zu ihrer forschungsgeschichtlichen Einordnung (67–78). Es folgt eine Fundamentalkritik an den Jesusbüchern von Joseph Ratzinger und Joachim Ringleben, denen Schröter bescheinigt, nicht auf der Höhe der gegenwärtigen Forschung zu sein, weil sie die Jesusdarstellungen der »Third Quest« nicht berücksichtigen (78–81). Zudem wirft er ihnen historische Naivität vor, sofern sie am Ideal einer objektiven, von eigenen Weltdeutungen unabhängingen Rekonstruktion der Vergangenheit festhalten (81 f.), die durch den Pluralismus der modernen Jesusdarstellungen widerlegt sei. Demgegenüber betont Schröter den konstruierenden, modellhaften Charakter jeder Jesusdarstellung: Rekonstruktion ist Konstruktion (84). Gleichzeitig erhebt Schröter das »Wirken« und »Selbstverständnis« Jesu zum Kriterium für die Legitimität soteriologischer und christologischer Vorstellungen im Neuen Testament, wie dem Sühne- und Opfergedanken (85). Was Wirken und Selbstverständnis Jesu betrifft, kommen Exegeten freilich zu Ergebnissen, die teilweise weit auseinanderliegen, so dass nicht klar ist, wie es auf dem von Schröter vorgeschlagenen Weg zu einer konsensfähigen Verbindung von histo­-rischer Jesusforschung und dogmatischer Christologie kommen sollte.
Markus Öhler (Wien) nimmt die Frage nach der Kontinuität von historischem Jesus und geglaubtem Christus auf und beschreibt in geschichtstheoretischer Perspektive die Evangelien als »Kontinuitätskonstrukte« (87–109). Die These seines Beitrages, der an zahlreichen Beispielen (Verheißung und Erfüllung, Gekreuzigter und Auferstandener, alter und neuer Bund) das Problem der Kontinutität von historischem Jesus und geglaubtem Christus behandelt, lautet: »Weil geglaubt wird, dass Jesus der Christus ist, ist er es auch in der historischen Darstellung« (107). Das klingt nach Projektionstheorie, ist aber so nicht gemeint. Denn obschon Öhler bestreitet, dass es beim Christus des Glaubens eine historische Kontinuität zu Jesus von Nazaret gibt, gibt es für Öhler doch eine sachliche Kontinuität: Das Bekenntnis zu Jesus dem Messias entspricht dem Wirken Jesu, auch wenn er sich selbst nicht als Messias verstand (107). Öhler würdigt die historische Jesusforschung wie die dogmatische Chris­tologie, indem er ihre notwendige Verwiesenheit aufeinander betont: »Eine Christologie ohne Bezug zum historischen Jesus verliert den Ansatzpunkt in der Geschichte. Eine Beschreibung des Lebens Jesu ohne Bezug zur (neutestamentlichen oder dogmatischen) Christologie verliert den Ansatzpunkt im Glauben und ihre Berechtigung als theologische Disziplin.« (109)
Roderich Barth (Halle-Wittenberg) erörtert in seinem Beitrag »Liberale Jesusbilder versus dogmatische Christologie« (111–139) das konfliktreiche Verhältnis von historischer Jesusforschung und dogmatischer Christologie, das im 19. Jh. als Erbe der Aufklärung mit voller Wucht aufbricht, von David Fried­rich Strauß bis zu Albert Schweitzer und Wilhelm Herrmann. Dabei plädiert Barth für eine kritische Aneignung der Erlebnistheologie Herrmanns (137–139): Das religiöse Erlebnis soll als Bindeglied zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus fungieren (139). Unter dem Titel »Das Ge­schichtsdenken der Moderne als Krise und Herausforderung der Christologie« (141–155) widmet sich der katholische Theologe Georg Essen (Nijmegen, jetzt Bochum) dem Thema »Geschichte und Christologie«, indem er die Auseinandersetzungen mit dem Problem der Geschichte von Lessing bis zum Historismus analysiert. Im Kontext modernen Geschichtsdenkens entwickelt er unter Aufnahme der Fassung des Kontingenzgedankens bei Schelling einen christologischen Offenbarungsbegriff. Die offenbarungstheologische Leitfrage ist dabei jene des »Fragmentenstreits«, wie nämlich »im Medium der Vernunft Wahrheit auf Geschichte bezogen werden kann« (143). Dabei distanziert sich Essen von der Historisierung der Offenbarungswahrheit ebenso wie von Lessings rationalistischer Offenbarungstheorie, wonach der Gehalt von Vernunft und Offenbarung identisch sei. Essen schlägt vor, die Überlieferungsgeschichte des Christusbekenntnisses als eine Abfolge von Denkformen zu begreifen, wobei Denkformen als »Kette diskontinuierlicher epochaler Übergänge« (149) verstanden werden. Das heißt: Kontinuität des Glaubens, Diskontinuität der Denkformen. Für die Christologie bedeutet dies, dass sie sich als Denkformanalyse zu vollziehen hat, wie Essen am Beispiel der christolo­gischen Zwei-Naturen-Lehre, die für ihn nach dem Ende der Substanzmetaphysik aporetisch geworden ist, sowie dem neuzeitlichen Freiheitsprinzip zu zeigen versucht. Doch sind Freiheit und Natur zwei miteinander unvereinbare Denkformen der Christologie? Oder gilt es nicht vielmehr, Freiheit und Natur immer wieder neu in ihrem Zusammenhang zu denken? Gerade wenn man wie Essen mit großer Überzeugungskraft das Freiheitsdenken als moderne Denkform für die Hermeneutik der christlichen Glaubenswahrheit ins Spiel bringt und Gott als unvordenklichen Ursprung (Schelling) menschlicher Subjektivität und Freiheit annimmt, kommt man wegen der Kontingenz menschlicher Subjektivität und Freiheit nicht umhin, nach dem Verhältnis von Natur und Freiheit zu fragen. Denn eine Freiheit, die sich nicht sich selbst verdankt, bedarf der Vermittlung durch etwas ihr Vorgegebenes, das sie zu gestalten hat.
Das dritte Kapitel »Christologie als Freiheitsreflexion« (157–235) ist Falk Wagner und seinem Beitrag für die christologische Debatte gewidmet. Das Kapitel umfasst Beiträge von Michael Murrmann-Kahl zur Christologie Falk Wagners (159–187), von Jörg Dierken (Hamburg, jetzt Halle-Wittenberg) zum Verhältnis von »Christologie und Pneumatologie« und von Ewald Stübinger (Hamburg) zum Thema »Christologie und Ethik« (211–235).
Theologie thematisiert nach Falk Wagner in der Christologie das Wissen der Freiheit um sich selbst: Christologie ist für Wagner Freiheitsreflexion, die in einer idealistischen, Hegels Metaphysik des Absoluten nahestehenden Selbstbewusstseinstheorie begründet ist, mit all den Problemen, die damit ver­-bunden sind, wie der Schwierigkeit eines geschichtlichen Verständnisses von menschlicher Subjektivität und Freiheit. Christologie hat bei Wagner mit dem, was man darunter üblicherweise versteht, nicht mehr viel zu tun: Chris­ tologie verflüssigt sich zur exemplarischen Theorie des Selbstbewusstseins (162), während die dogmatische Christologie gegenüber der »gottmenschlichen Selbstvermittlung« als »nichtsinnlich-gedankliches Konstrukt« abgewiesen wird (vgl. dazu die im Anhang abgedruckte Wiener Christologievorlesung Wagners aus dem Wintersemester 1989/1990).
Im vierten Teil des Buches (237–305) sind unter der Überschrift »Kulturdiagnostische Aspekte der Christologie« drei Beiträge versammelt.
Ausgehend von der Kontroverse zwischen Rudolf Bultmann und Rudolf Otto entwickelt Jörg Lauster (Marburg) Christologie als Religionshermeneutik, bei der Religion auf der Linie Schleiermachers als »Sinnstiftung und Deutungs­leistung des religiösen Bewusstseins« (240) begriffen wird. Abgelehnt wird die Vorstellung, wonach christologische Aussagen »objektive und substantiale Wirklichkeitsbeschreibungen« (242) sind. Christologie ist für Lauster ein Sinnbildungsprozess, der sich auf ein letztlich nicht artikulierbares religiöses Evidenzerlebnis (Transzendenzerfahrung) bezieht. Im christologischen Dogma sieht Lauster eine »Rationalisierung des Irrationalen« (253). Gleichwohl be­-ansprucht er für sein religionshermeneutisches Konzept einen »realistischen Deutungsbegriff« (255).
Markus Buntfuß (Neuendettelsau) schreibt seinen sprachtheoretisch an­setzenden Beitrag ausgehend von der kritischen Auseinandersetzung, die David Friedrich Strauß mit Schleiermachers »Das Leben Jesu« geführt hat (259–261). Auf der Grundlage der Mythos- und Metapherntheorie Vicos, Cassirers und Blumenbergs (261–266) bemüht sich Buntfuß darum, die produktive Leistungskraft der metaphorischen Sprachform christlicher Mythologie und Symbolik zu erschließen (266–268). Am Ende steht, ausgehend von der grundlegenden christologischen Metapher der Inkarnation, eine metaphorologische Interpretation der Inkarnationstheologie (268–270), deren Leistungskraft Buntfuß am Ende an Günter Baders Versuch einer christologischen Bildordnung exemplifiziert (270–273).
Der stärkste Beitrag des Bandes steht am Ende – geschrieben von Ulrich Barth (Halle-Wittenberg). Auch wenn der Ausfall einer Personchristologie und eine Unterbestimmung der Soteriologie zu beklagen sind, da die be­griffliche Bestimmung der Identität Jesu und seines Sterbens pro nobis über die Formel »paradigmatische Gestalt eines Gott hingegebenen Lebens« nicht hinauskommt, ist Barths Ansatz der Christologie bei einer Hermeneutik der Evan-gelien doch insgesamt überzeugend. Die Einsicht in die narrative Struktu­rierung von Geschichtsschreibung und in die Differenzierung zwischen His­torischem und Fiktionalem (278–285) erlauben es, die Evangelien als »religiöse Biographien« (289) zu lesen, die mit der Zuspitzung in der Beschreibung des Todes Jesu versuchen, ein lebendiges Bild des Lebens Jesu als eines Gott hingegebenen Lebens zu malen. Ansätze für ein »piktorales« Verständnis der Evangelien findet Barth bei Martin Luther und Wilhelm Herrmann (290–301).
Wer Christian Danz kennt, ist hinsichtlich der Stoßrichtung einiger Beiträge des Bandes nicht überrascht. Schon 2009 hatte Danz einen Artikel zum Jesus der Exegeten und Christus der Dogmatiker geschrieben (NZSTh 51, 2009, 186–204), in dem er sich vom dog­-matischen Christusbild und allen Varianten einer dogmatischen Chris­tologie, seien sie evangelisch oder katholisch, distanziert hat. Der Vorwurf einer dogmatischen Engführung der historischen Je­susforschung betrifft alle, die nicht wie Danz die Normativität des christologischen Dogmas unter Berufung auf seine kontingente Genese suspendieren und Christologie auf »Religionshermeneutik« reduzieren. Das Programm lautet: »Christologie als Geschichts­-philosophie« oder »Konstitutionstheorie der Freiheit« (Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus, 7). Man darf ge­spannt sein auf die Christologie des Wiener Theologen.