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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

715–716

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst

Titel/Untertitel:

Christliche Sittenlehre. (Vorlesung im Wintersemester 1826/27). Nach größtenteils unveröffentlichten Hörernachschriften und nach teilweise unveröffentlichten Manuskripten Schleiermachers hrsg. u. eingel. v. H. Peiter. Bd. 1 (Hörernachschriften).

Verlag:

Berlin/Münster: LIT 2011. LXVIII, 635 S. m. Abb. 23,5 x 16,2 cm = Theologie: Forschung und Wissenschaft, 32. Kart. EUR 69,90. ISBN 978-3-8258-6535-1.

Rezensent:

Anne Käfer

»Keine Vorlesung Schleiermacher’s hat einen mächtigeren Eindruck auf mich gemacht, als die im Sommer 1817 über die christliche Sittenlehre.« Mit dieser Hochschätzung Schleiermachers beginnt Lud­wig Jonas das Vorwort zu seiner 1843 erschienenen Ausgabe von Schleiermachers christlicher Sittenlehre.
Weil er »mit der ewigen unkritischen Nachdruckerei« (XXXII) dieser Ausgabe ein Ende machen will, hat nun 2011 Hermann Peiter Schleiermachers Ausführungen zur christlichen Sittenlehre neu ediert; seine Ausgabe bezieht sich auf Schleiermachers Vorlesung im Wintersemester 1826/27. »Diese Ausgabe hat eine skandalöse Vorgeschichte, welche dargestellt ist in meinem Buch ›Wis-senschaft im Würgegriff von SED und DDR-Zensur‹« (XVII). So schreibt P. in seinem Vorwort und lässt sich in seinen einleitenden Abschnitten darüber aus, wie sehr er und seine Editionsunterneh mungen nicht nur unter der DDR-Diktatur, sondern auch unter der Ablehnung durch skeptische Herausgeber der Kritischen Schlei­ermacher-Gesamtausgabe (KGA) zu leiden gehabt hätten. P. gibt nicht nur eine historische Einführung zur Vorlesungstätigkeit Schleiermachers, er wird auch nicht müde, seine Geschichte mit der Edition in den Vordergrund zu stellen.
Seine eigenen Editionsgrundsätze grenzt P. von den angeblich »monarchischen« Editionsprinzipien der KGA ab (LIII). Ihm ist daran gelegen, die Wiedergabe Schleiermacherschen Gedankengutes nicht unter die Herrschaft eines Textes zu stellen, sondern durch eine Vielzahl von Nachschriften zu gewährleisten. Für seine Ausgabe hat er drei Nachschriften von Studenten gewählt, die »von überdurchschnittlicher Begabung waren.« (XLIV) Über diese Begabung äußert sich P. ebenso überzeugt wie darüber, dass die drei Nachschriften das Denken Schleiermachers zuverlässiger wiedergeben als dessen eigene Manuskripte.
P.s Edition ist eine »Zusammenarbeitung« aus den drei Nachschriften (LV). Nur einzelne auserwählte Zitate aus Schleiermachers Manuskripten hat er in die Fußnoten gestellt und somit dem Fließtext untergeordnet. P.s Hermeneutik ist nämlich von der Annahme geleitet, dass die mündlichen Äußerungen Schleiermachers vor seinen schriftlichen den Vorrang verdienten; grundsätzlich sei das mündliche Wort dem »Buchstaben« vorzuziehen. »Man wird sich daran erinnern, dass der historische Jesus den Seinen nichts Schriftliches hinterlassen hat […] Am Anfang stand nicht der Buchstabe, der gleichwohl besonderer Pflege bedarf, um die Erinnerung an den Anfang lebendig zu halten.« (XXVII, Anm. 6)
Diese Anmerkung, die den Vergleich der Vorlesung Schleiermachers mit der Rede des historischen Jesus unternimmt, ist ganz gewiss schmeichelhaft. Allerdings ist sie gerade kein Argument für P.s Bevorzugung von Nachschriften gegenüber den von Schleiermacher selbst fixierten Überlegungen. Weil der historische Jesus – anders als Schleiermacher – nichts Schriftliches hinterlassen hat, haben andere es unternommen, sein Leben und Reden als das Leben und Reden des Inkarnierten nachzuschreiben. Weil ihre Nachschriften weder unmittelbar den Inkarnierten zeigen noch gar direkte Handlungsanweisungen in seinem Sinne geben, gilt es nach Schleiermacher, in der christlichen Ethik wie in der Dogmatik bei der Interpretation von Schriftzeugnissen auf das »christliche Lebensprinzip« zurückzugehen (27, Nachschrift). Das angemessene Verständnis der Schriftaussagen ist nach Schleiermacher dann gegeben, wenn diese am »Factum der Erlösung durch Christum« gemessen werden (28, Nachschrift).
Auch die verschiedenen Schriftzeugnisse, die P. bei seiner Edition verwendet (denn auch er bezieht sich doch keineswegs un­mittelbar auf das gesprochene Wort), können nur dann recht verstanden werden, wenn die Intention ihres ursprünglichen Urhebers deutlich ist. Dazu ist die textkritische Auseinandersetzung sicher dienlich, die P. in einem zweiten Band veröffentlichen will. Weitaus hilfreicher scheint noch die von P. ebenfalls für einen zweiten Band angekündigte Bezugnahme auf andere von Schleiermacher selbst verfasste Texte zu sein. Allerdings wird P. durch seine Textauswahl, ebenso wie mit seiner »Zusammenarbeitung« der Nachschriften auch, das Verständnis des Schleiermacherschen Gedankengutes mitbestimmen. Wäre es darum nicht am redlichsten, grundlegend die Manu­-skripte des Vorlesers Schleiermacher als kritisches Gegenüber für die Verwendung der Nachschriften zu nutzen? Gerade dann können im Vergleich mit den Nachschriften Abweichungen Schleiermachers von seinen Manuskripten bemerkt und interpretiert werden, so dass seine Einsichten mehr und mehr zutage treten.
P.s Absicht, frei von »monarchischen« Grundsätzen zu edieren, kann doch wohl nicht durch das Eliminieren von Texten bewirkt werden sollen, die eine ausschlaggebende Funktion für das Gesamtverständnis haben. Zumindest nach Schleiermacher wird eine Monarchie nicht dadurch in eine Demokratie verwandelt, dass die »Obrigkeit« aufgelöst wird. Vielmehr bestehe eine »reine Demokratie« dort, »wo jeder Unterthan und jeder Obrigkeit ist, und eine Verschiedenheit nur in der momentanen Function besteht.« (215, Nachschrift)
Dass Schleiermachers klare und konsequente Gedankengänge zur Schrifthermeneutik, zum Staat und zum christlichen Lebenswandel überhaupt in sehr lesefreundlicher Weise verfügbar sind, das ist P.s großes Verdienst. Damit jedoch durch P.s (Selbst-)Darstellung auf den einleitenden Seiten nicht schon gleich der Geschmack fürs Ganze verloren geht, wird empfohlen, den Einstieg in die Lektüre der toten Nachschriften-Dichter unter Absehung der Einleitungsseiten zu wählen. So wird P.s Nachschriftenedition für das Studium Schleiermachers sehr gewinnbringend sein.