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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

709–711

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Moritz, Anja

Titel/Untertitel:

Interim und Apokalypse. Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik 1547–1551/52.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XIV, 348 S. 23,2 x 15,6 cm = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 47. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-150109-8.

Rezensent:

Vera von der Osten-Sacken

Der Band ist die für den Druck überarbeitete Fassung der Dissertation von Anja Kürbis, geb. Moritz. Vor dem Hintergrund endzeitlicher Gegenwartsdeutung betrachtet die Vfn. gedruckte Flugschriften der lutherischen Theologen M. Flacius Illyricus, Nikolaus Gallus, Nikolaus von Amsdorf und Erasmus Alberus, die im Kontext des sog. Interims nach Magdeburg zugereist waren. Die Flugschriften entstanden in der Zeit zwischen dem Beschluss des kaiserlichen Religionsgesetzes im Frühsommer 1548 und dem Ende der Belagerung der Altstadt Magdeburgs im Winter 1551.
Die primäre Funktion apokalyptischer Flugschriftenliteratur erkennt die Vfn. mit Volker Leppin (Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618 [QFRG 69], Gütersloh 1999, 28 f.) neben ihrer polemischen Funktion in der Bereitstellung von Orientierungswissen. Hinzu kommen verschiedene Ausschreiben des Rates der Stadt Magdeburg bis 1552. Die Vfn. zieht jedoch nicht die teils ausgesprochen umfangreichen handschriftlichen Nachlässe der beteiligten Theologen heran, was im Rahmen einer solchen Studie auch höchstens exemplarisch zu leisten gewesen wäre.
Die Vfn. grenzt das Konfessionalisierungsparadigma gegen ein Konzept von Politischer Theologie ab (6 f.) und schließt eine Reflexion der Begriffe »Apokalyptik« und »Krise« an (Kapitel 1). Sodann stellt sie Magdeburg als »Herrgotts Kanzlei« vor (Kapitel 2), um danach in weitgehend chronologischer Reihenfolge mit einer ereignisgeschichtlichen Schilderung der Religionsgespräche zwischen August 1530 und März 1546 und des Schmalkaldischen Krieges (Kapitel 3 und 4) fortzufahren, die sie als notwendige Voraussetzungen für das Interimsgeschehen (Kapitel 5) betrachtet. Im durchaus substanziellen Kapitel 6 kommt sie wieder auf das »Bollwerk« Magdeburg zurück. Kapitel 7 geht schließlich auf die Apokalyptik ein, aus der die nach Magdeburg zugereisten Theologen – so die Vfn. – den primären Deutungshorizont ihrer Gegenwartsdiagnose bezogen. Ein kurzes Fazit (Kapitel 8) fasst die Ergebnisse der Studie zusammen. Sehr leserfreundlich ist die Gliederung mit Zusammenfassungen an den Kapitelenden und einem kurzen Fazit am Schluss.
Aus einer endzeitlichen Deutung der Geschehnisse um das sog. Interim leiteten die nach Magdeburg zugereisten Theologen ethische Normen und Handlungsmaximen und eine besondere Wahrnehmung ihrer eigenen Rolle sowie der kaiserlichen und kursächsischen Religionspolitik ab (1).
Für ihre wahrnehmungsgeschichtliche Betrachtung fasst die Vfn. die nach Magdeburg zugereisten Theologen pragmatisch zu einer Handlungseinheit zusammen. Ihnen sei in einer Art Aufgabenteilung das Wirken nach außen zugefallen, während die ortsansässigen Theologen vor allem Predigt und Seelsorge versehen hätten (41). Das trifft insofern zu, als die externen Theologen in Magdeburg vor allem publizistisch aktiv wurden und teilweise auch bewusst zu diesem Zweck in die Stadt geholt worden waren. Ihr ist bewusst, dass beide Zuordnungen sich nur bedingt durchhalten lassen, wie das Beispiel des Nikolaus Gallus zeigt, der einerseits als Superintendent und andererseits unter der ostentativen Selbstbezeichnung »Exul« agierte. Hier könnte man auch weiter fragen, weshalb eine solche Aufgabenteilung überhaupt stattfand, zumal die in Magdeburg ansässigen Theologen ganz ähnliche Ausbildungen und Voraussetzungen mitbrachten wie die zugereisten, wie die Vfn. in anderem Zusammenhang feststellt (55 f.).
Gegen eine harmonisierende Wahrnehmung, der Rat der Stadt Magdeburg und die zugereisten Theologen hätten eine durchgängige Handlungsgemeinschaft gebildet, arbeitet die Vfn. aber die Wahrnehmung beider Gruppen und auch ihre schließlich erfolgte Trennung heraus. Erst durch Aufhebung der Handlungsgemeinschaft und Ausschluss der radikalen Position der Theologen von weiteren Verhandlungen konnte der Rat ein Ende der Auseinan­dersetzungen herbeiführen (208–210).
Die im Titel angekündigte Auseinandersetzung mit apokalyptischer Gegenwartsdeutung ist vor allem dadurch vollzogen, dass die Vfn. hierin Erklärungsmuster für die Unnachgiebigkeit der Magdeburger Theologen und der subjektiv empfundenen Dringlichkeit ihres Anliegens sucht. Apokalyptik interpretiert sie hierbei als komplexes Deutungsmuster für die Regeln des Politischen, das ein Vokabular zur Beschreibung einer existenziellen Bedrohung zur Verfügung stellte, seinem Wesen nach also weniger Theo­logie als hilfreiches Konstrukt zur Realitätsbewältigung war. Folgerichtig bietet sie keine funktionale oder theologische Ana-lyse einzelner apokalyptischer Motive in den Magdeburger Flug schriften und ordnet diese auch nicht in einen interkonfessio­nellen Kontext ein. Unklar bleibt jedoch, ob eine apokalyptische Ge­genwartsdeutung den Handlungen und Urteilen der nach Magdeburg zugereisten lutherischen Theologen gegenüber vorzeitig und für ihr Selbstverständnis prägend war (1 f.) oder ob diese Theologen auf apokalyptische Motive zurückgriffen, um hilfreiche Bewertungen und Bewältigungsstrategien zu gewinnen (9), oder ob sie diese bewusst im Rahmen einer Selbstinszenierung Magdeburg als »Bollwerk des Widerstands« einsetzten, wie Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs »Herrgotts Kanzlei« (1548–1551/2), Tü­bingen 2003, bes. 65–69 und 102 f., vorgeschlagen hat und wie die Vfn. anhand der Ausschreiben des Magdeburger Rates zeigt (200–203). Denkbar wäre gegebenenfalls auch eine Mischung der genannten drei Optionen. Sehr interessant könnte hier ein Vergleich mit den Wittenberger Theologen sein, mit denen die Magdeburger in direkter Auseinandersetzung und in Schüler-Lehrer-Verbindungen standen, auf die die Vfn. am Ende ihres Werkes hinweist (280 f.).
Problematisch ist ihre Verwendung des Begriffs »Magdeburger Exules«, den sie zunächst einführt, um ihn an die Stelle der durch Polemik oder mit Selbstzuschreibungen belasteten Ausdrücke »Flacianer« und »Gnesiolutheraner« zu setzen (4, Anm. 8). Hierbei übergeht sie jedoch den stark polemischen Charakter dieser Eigenbezeichnung, die die betreffenden Lutheraner ostentativ verwendeten. Auch die personale Abgrenzung ist schwierig. M. Flacius Illyricus nannte sich selten oder gar nicht »Exul«, während Nikolaus von Amsdorf dies offensiv und konfrontativ, und im Untersuchungszeitraum in Magdeburg meines Wissens auch als einziger, getan hat. In der zweiten Hälfte des 16. Jh.s haben sich mehrere hundert lutherische Theologen und Gelehrte in verschiedenen Variationen und Zusammenhängen als »Exules (Christi)« bezeich net. Aber auch während des Untersuchungszeitraums ist die Selbstbezeichnung kein magdeburgisches Proprium. Auch Joachim Mörlin nannte sich »Exul«, als er im Jahre 1550 die Stadt Göttingen verlassen musste.
An einigen Stellen formuliert die Vfn. unklar. Z. B. fasst sie eine Argumentation aus der Magdeburger Polemik folgendermaßen zusammen: »Die Domherren erschienen als Diener des Papstes, der als römischer Antichrist nachweislich im Tempel Gottes saß, um diesem die Kirche zu unterwerfen« (205) und spricht auch vom Selbstverständnis einer »junge[n] lutherische[n] Kirche« (2), obwohl ihr natürlich bewusst ist, dass gerade M. Flacius Illyricus und seine Magdeburger Mitstreiter Wert darauf legten, die Evangelischen in der Tradition einer von jeher verfolgten Minderheit der aufrechten Bekenner der vermeintlich wahren Lehre Christi und damit des eigentlichen Kerns der Chris­tenheit zu sehen.
Einige wenige Versehen sind stehengeblieben, z. B. »kirchliche Zeremonien bestimmen, die in casus [sic!] confessionis längst ihren indifferenten Charakter verloren hatten« (258) oder die Kapitelüberschrift »Amico Plato« (278). Das Zitat, auf das sie sich bezieht, beginnt allerdings richtig mit »Amicus Plato« (279). Ärgerlich, aber glücklicherweise selten, sind kleine Ungenauigkeiten bei innertextlichen Verweisen (z. B. 207) und Literaturangaben. Z. B. zitiert die Vfn. den Aufsatz von Gustav Kawerau, Johann Agricolas Antheil an den Wirren des Augsburger Interim, in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 17 (1880), 398–463, mehrmals mit Seitenangaben, die es nach ihrem eigenen Literaturverzeichnis nicht geben dürfte (134, Anm. 148.150.152).
Abgesehen von diesen Kleinigkeiten hat die Vfn. eine sehr sorg­-fältige, lesenswerte Studie vorgelegt, die den Blick auf das enge Zusammenspiel von Rat und Theologen in der Stadt Magdeburg lenkt, aber auch dessen Grenzen aufzeigt.