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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

698–700

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Mandrella, Isabelle

Titel/Untertitel:

Viva imago. Die praktische Philosophie des Nicolaus Cusanus.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2011. 328 S. 23,0 x 15,5 cm = Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, 19. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-402-10457-6.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Mit dieser philosophischen Monographie hat sich Isabelle Mandrella 2010/2011 in Bonn habilitiert. Hauptgutachter war Theo Ko­busch.
Auch wenn Nikolaus von Kues keine eigene Schrift zur Ethik verfasst hat, so ist M. doch davon überzeugt, dass sein Schrifttum und vor allem seine Predigten voll sind von ethischen Implikationen. Was Werner Beierwaltes für die Neuplatoniker feststellt, gilt für M. auch von Nikolaus: »Philosophie im ganzen, nicht nur eingeschränkt als ›Ethik‹, ist die Lebensform des Menschen.« Und mit Andreas Speer betont sie, dass Philosophie »gelebte Weisheit« mit einem »eminent ethischen Impuls verbunden« und »ein den Menschen existentiell einfordernder Weg zur Vollendung« ist (16.18). M. ist davon überzeugt, dass das aristotelische »Gesamtverständnis als einer rationalen Form der Philosophie« Nikolaus fasziniert hat, auch wenn er diesen Ansatz wegen seiner »Beschränkung auf den Bereich der ratio« als gescheitert ansieht (33). Weitere Autoren, die für seine ethischen Ausführungen maßgeblich waren, nennt er nicht, direkte Abhängigkeiten sind auch nicht nachweisbar. Dass die originär cusanische Entdeckung der viva imago von Raimundus Sabundus beeinflusst wurde, hält M. für möglich, geht dem aber nicht weiter nach. Der freie Wille als »Sitz Gottes« erhob den Menschen »zum lebendigen Abbild Gottes« (37 f.).
Die Arbeit besteht aus drei Hauptteilen: Ethik als Wissenschaft; Rationale Ethik; Intellektuelle Ethik. Ein kurzer Schlussteil zieht das Fazit: »Viva imago: Praktische Philosophie als Selbstgestaltung«. Wichtig ist ihr: »Der sich seiner Gottähnlichkeit bewusst gewordene Mensch führt ein Leben in Intellektualität und Freiheit« (41).
Zum Thema »Ethik als Wissenschaft« heißt es: Nikolaus hat die »mittelalterliche Aufteilung der Wissenschaften in theoretische und praktische« nicht angewandt; leitende Kategorien wurden ratio und intellectus, wobei die Ethik als philosophia rationalis anzusehen sei; als solche sei sie ein »Hilfsmittel«, dessen sich der Mensch als rationales Wesen bedienen könne. Dadurch könne er eigene Mängel kompensieren (64.74). Seine Konzeption der Anähnlichung an Gott, der christiformitas, könne man nicht einfach einer der Philosophie gegenübergestellten Theologie zuschlagen (66). Der Mensch habe die Ethik erfunden, um besser leben zu können, tugendhaft und friedvoll. Es fällt dabei auf, dass Nikolaus den Begriff ratio practica nicht gebraucht, dafür aber gelegentlich die Begriffe intellectus practicus und ratio recta. Für ihn ist »die rechte Vernunft das Maß oder die Regel der menschlichen Handlungen« (77).
Zum Thema »Rationale Ethik« führt M. aus: Der Mensch hat sich seines ihm anerschaffenen Wissens um das Gute und Tugendhafte zu bedienen. Er kann sich so intellektual selbst entfalten und Gott anähnlichen. Das gelte für alle, denn der Mensch sei eine »Vernunftnatur«; (93.97). Nikolaus schließt sich der Lehre vom natürlichen Vernunftgesetz bzw. von einem ewigen Gesetz an. Er ist davon überzeugt, dass wir in uns einen »erkennenden Geist haben, […] der uns unterweist, wenn wir etwas Tadelnswertes vollzogen haben, das gegen jenes ewige Gesetz verstößt«; denn da tadelt uns unser intellektuales Herz. So stellt er einen Zusammenhang von Gewissen und dem ewigen Gesetz her (105 f.). Kaum unterscheidet er davon das natürliche Gesetz, vor allem den Dekalog, denn dieser enthält »nichts anderes als das, was schon von Natur aus galt«; ja Christus trägt als das verbum Dei das Naturgesetz in sich (110.119). Im Menschen hat es seinen Sitz im Gewissen, das ihn unterscheiden lässt »zwischen dem zu tuenden Guten und dem zu meidenden Schlechten« (127). Auch wenn die sog. Goldene Regel keine inhaltlichen Kriterien des Guten liefert, gilt sie doch als oberstes Prinzip seiner rationalen Ethik, sie ist der einzige Weg, woran zu erkennen sei, wie nahe man der Gottessohnschaft gekommen ist (134). Dabei ist ihm der Begriff der Gleichheit – in Bezug sowohl auf Christus als auch auf die Gerechtigkeit – wichtig.
Zur Tugendlehre hat Nikolaus nur kurze Anmerkungen gegeben, obwohl sie sonst im mittelalterlichen Denken eine hervorgehobene Stellung einnahm. Auch im tugendhaften Verhalten – vor allem in den Kardinaltugenden – wird der Mensch gottähnlich (162). Wichtig sind ihm dabei vor allem die Gerechtigkeit und die Liebe, die Liebe als Fülle aller natürlich-göttlichen Gesetze. Jede Tugend muss durch die Liebe geformt sein, nur durch sie wird ein Mensch wirklich tugendhaft (170.176). Zentral ist ihm für dieses Denken Christus als »Tugend der Tugenden«. Christus ist dem Menschen Vorbild, damit er christiformis werde (185).
Zum Thema »Intellektuelle Ethik« bemerkt M.: Nikolaus erhebt nicht nur rationale Moralvorstellungen zum Gegenstand seiner praktischen Philosophie, er fordert vielmehr den Menschen auf, als viva imago seine gottähnlichen Fähigkeiten zu realisieren. Dem dient seine »Konzeption einer intellektuellen Ethik«. Die höchste Lebensform soll die ultima felicitas erfüllen, das unsterbliche Le­ben (195). Anhand der Maria-Martha-Perikope erläutert er mehrfach, dass aktives und kontemplatives Leben nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Wichtig sei »die Auflösung aller Dinge in das Eine«, dabei seien gewisse Dinge als nichts zu erachten (207 f.). Richtet sich der Mensch auf das Eine aus, wird er sich selbst als viva imago Dei erkennen, sich so Gott angleichen und christiformis werden im perfekten Gehorsam. Hier wirkt sich (neu-)platonisches Denken aus. Der Mensch ist befähigt zur Kreativität, wozu er die Entscheidungsfreiheit kraft seines freien Willens hat. Gerade darin erweist sich seine Gottähnlichkeit; Nikolaus kann ja den Menschen deus secundus bzw. deus creatus nennen. Aber trotzdem zeigt er auch seine Grenzen auf und fordert seinen Gehorsam. M. versteht die cusanische Gehorsamslehre als komplementär zu seiner Freiheitslehre (269). Abschließend hebt M. hervor, dass »das wahre Selbst des Menschen darin besteht, das freie und intellektuelle Wesen zu sein, als das Gott ihn schuf … ›Gott ähnlich sein‹ heißt nichts anderes, als ›intellektuell und frei tätig sein‹« (286).
M. hat das gesamte cusanische Schrifttum für ihre Untersuchung herangezogen, vor allem auch die Predigten. Hier schöpft sie aus intimer Kenntnis, hat sie doch an deren Edition mitgewirkt. Meinten noch vor Kurzem Philosophen, die Predigten beiseite lassen zu können, brächten sie doch kaum Neues, so hat sich dies durch ihre Edition grundlegend geändert. Für Theologen wie für Philosophen sind sie heute von höchstem Interesse.
Ein paar Fragen bleiben: Wenn auch Nikolaus zwischen intellectus und ratio nicht scharf unterscheidet, so ist doch zu berücksichtigen, dass er den Begriff ratio practica nicht gebraucht. Warum spricht dann aber M. ziemlich konsequent von einer praktischen Vernunft? Jedoch differenziert sie (mit Hans Gerhard Senger) zwischen einer rationalen und einer intellektualen Form des Praktischen (87). Hier gebraucht sie das Attribut »intellektual«, sonst konsequent »intellektuell«. Kann eine Ethik »intellektuell« sein? Im Deutschen können wir zwischen »intellektuell« und »in­tellektual« unterscheiden, wie wir zwischen »rational« und »rationell« unterscheiden.
Insgesamt legt M. eine sehr beachtenswerte Untersuchung vor, die sich einem bisher wenig bearbeiteten Gebiet cusanischen Denkens widmet.