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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

694–696

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Basse, Michael

Titel/Untertitel:

Entmachtung und Selbstzerstörung des Papsttums (1302–1414).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 181 S. 24,0 x 17,0 cm = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, II/1. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-02493-3.

Rezensent:

Bernd Schneidmüller

Die protestantische Historiographie beschreibt die Historie der spätmittelalterlichen Kirche aus reformatorischen Perspektiven traditionell als Geschichte von Verfall und Krise. Längst ist dieses Deutungsmuster zum überkonfessionellen Urteilskriterium er­wachsen. Zuletzt wählte die neueste historische Gesamtdarstellung von Heribert Müller, die kurz nach dem hier anzuzeigenden Buch erschien, den Titel »Die kirchliche Krise des Spätmittelalters« (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 90, München 2012). Der Krisenbegriff erwächst damit zur Signatur des ganzen Spätmittelalters. Zu weit hatte sich die Realität der auf die Päpste in Avignon oder Rom ausgerichteten Amtskirche offenbar vom apostolischen Ideal der Urkirche entfernt, an der die Reformatoren des 16. Jh.s programmatisch anzuknüpfen versuchten.
Konzis und auf der Höhe der modernen Forschung bietet Mi­chael Basse eine Gesamtdarstellung der Geschichte der lateinischen Kirche zwischen 1302 und 1414. Das Buch überzeugt durch seine präzise Diktion wie durch seine Schwerpunktsetzungen und bietet verlässliche Zugänge zu einem Jahrhundert der mittelalterlichen Kirchengeschichte, das nur wenige Sympathien der Nachgebo­renen auf sich zog. Der von B. gewählte Zeitrahmen orientiert sich an krisenhaften Einschnitten der Papstgeschichte. 1303 starb mit Papst Bonifaz VIII. ein eifriger Verfechter übersteigerter papaler Suprematie, der im sog. »Attentat von Anagni« zuletzt sogar den handgreiflichen Widerstand einer selbstbewussten europäischen Monarchie erlebte. Bonifaz’ berühmte Bulle »Unam sanctam« hatte 1302 aller Kreatur den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Papst als Voraussetzung für die Erlangung des Heils eingeschärft. 1414 stritten dann gleich drei Päpste um den exklusiven Anspruch auf die Nachfolge des Apostelfürsten Petrus und um die Stellvertreterschaft Christi auf Erden, ohne den epochalen Konflikt des sog. Großen Abendländischen Schismas (1378–1414/1417) selbst lösen zu können. Mit der Eröffnung des Konstanzer Konzils brach 1414 ein neues Zeitalter der Kirchengeschichte an, das den konsensualen Aushandlungsprozessen der im Heiligen Geist versammelten Konzilsväter neue Chancen eröffnen wollte. Die entsprechende Ge­samt­darstellung dieser Folgeepoche bis zum Vorabend der Reformation stammt auch von B. (2008).
Im ersten Kapitel über das Papsttum in Avignon und im letzten Kapitel über das Abendländische Schisma präsentiert B. die Ge­schichte der Päpste, den Ausbau der Amtskirche und die Versuche zur Lösung der Kirchenspaltung bis zum Konzil von Pisa 1409. Das zweite Kapitel widmet sich traditionellen Ordensgemeinschaften und neuen Formen der Frömmigkeit zwischen amtskirchlicher Bindung und Entfaltung einer neuen Laienfrömmigkeit. Die Aufmerksamkeit gilt dann der kirchlichen Auseinandersetzung mit Armut und Reichtum und dem theologisch wie kirchenrechtlich bedeutsamen Streit des Papsttums mit den Franziskanern um die Armut des biblischen Jesus sowie der spätmittelalterlichen Christen (Kapitel 3). Den elementaren Herausforderungen der großen Pestkatastrophen in der Mitte des 14. Jh.s, den geistlichen Erklärungs- und Bewältigungsstrategien wie der zunehmenden Ausgrenzung von »Ketzereien« gilt das vierte Kapitel. Dem schließen sich knappere Ausführungen zur Perzeption der differenten Religionen von Juden und Muslimen sowie zum Verhältnis der lateinischen Kirche zu den anderen Buchreligionen an (Kapitel 5).
Bei seinen Beispielen wie in der Auswahl moderner Literatur folgt B. eher deutschen Perspektiven, was angesichts der zu erwartenden Leserschaft verständlich ist. Auf sie mag auch das histo­-rische Urteil ausgerichtet sein. Bisweilen bietet die Darstellung nämlich eine Teleologie der auf die Reformation zulaufenden Kirchengeschichte und lässt wenig Raum für die Entdeckung vergangener Alteritäten jenseits unserer rückschauenden Perspektivierungen (z. B. 69.90.139). Die Sympathien für Wyclif als Vorläufer von Hus oder für »die unsichtbare Kirche als die eigentliche« (139.143) sind durchaus nachvollziehbar. Über die Idee, ganze Generationenfolgen hätten sich in beständiger Krise befunden, könnte man diskutieren. Nachdenklich macht allerdings der Titel des Buchs: Wer die theologischen Diskurse oder den Zugriff des avignone­sischen Papsttums auf die gesamte lateinische Christenheit studiert, wird kaum eine Entmachtung des Papsttums konstatieren, allenfalls die zunehmende Kritik päpstlicher Ansprüche. Und eine Selbstzerstörung des Papsttums hätte im ausgehenden Mittelalter niemand entdeckt. Selbst die Konzilsväter von Konstanz oder Basel griffen nur die Unwürdigkeit einzelner Amtsträger, nicht aber die Institution als solche an. Zerstört wurde das Papsttum also weder an der Wende vom 14. zum 15. Jh. noch später. Allenfalls seine universale Autorität wurde bestritten oder verändert.
Trotz dieser vielleicht kleinlichen Nachdenklichkeit über den Titel dieses Buchs und über den Nutzen, zu dem man Kirchengeschichte schreibt: Hier liegt ein verlässlicher Überblick vor, klug komponiert, im Anmerkungsapparat kompetent an die neue Forschung heranführend, konsequent im historischen Urteil.