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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

690–692

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Henne, Philippe

Titel/Untertitel:

La Bible et les Pères. Parcours historique de l’utilisation des Écritures dans les premiers siècles de l’Église.

Verlag:

Paris: Cerf 2010. 288 S. 21,5 x 13,5 cm = Initiations aux Pères de l’Église. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-2-204-09214-2.

Rezensent:

Heinrich Holze

Das in der Reihe »Initiations aux Pères de l’Église« erschienene Buch bietet – wie im Titel angedeutet – »eine historische Reise durch die Geschichte der Bibel in den ersten Jahrhunderten der Kirche«. Der Autor ist für diese Aufgabe bestens vorbereitet. Philippe Henne, Mitglied des Dominikanerordens und Inhaber des patristischen Lehrstuhls an der Theologischen Fakultät der katholischen Universität Lille, ist in den vergangenen Jahren mit mehreren großen Untersuchungen hervorgetreten. Zu ihnen zählen Bücher über Clemens von Rom (1992), den Hirten des Hermas (1992), Origenes (2004), Hilarius von Poitiers (2006), Gregor den Großen (2007), Leo den Großen (2008), Hieronymus (2009) und zuletzt Tertullian (2011). Auch sein hier zu besprechendes Buch trägt biographische Züge, unterscheidet sich aber von den vorangehenden Arbeiten dadurch, dass es eine thematische Perspektive in den Vordergrund stellt. Indem er den Blick auf die Deutung und den Gebrauch der Bibel lenkt, bietet H. nicht nur eine Untersuchung zur Frage des altkirchlichen Schriftgebrauchs, sondern auch zum Selbstverständnis der Alten Kirche.
Das Buch hat narrativen Charakter. Im Mittelpunkt stehen die Quellen. Durchgängig werden Kommentare, Predigten und andere Schriften, die von der Bibel erzählen, diese auslegen und kommentieren, in den zeithistorischen Kontext eingeordnet und auf ihre Hermeneutik hin befragt. Der Aufbau ist chronologisch.
Teil 1 setzt ein mit den Qumran-Essenern und Philo von Alexandrien, erläutert den Gebrauch der Heiligen Schrift bei Jesus und in der frühen Christenheit und schließt eine Beschreibung des marcionitischen Entwurfs sowie gnostischer Stimmen an. Das Ergebnis zeigt eine frühe Vielstimmigkeit: apokalyptische stehen gegen philosophische Stimmen, strittig ist die Deutung des mosaischen Gesetzes, offen die Frage, wem der Zugang zur Schrift offensteht.
Teil 2 behandelt die Apologeten, für die die Schrift in erster Linie ein Mittel darstellte, um im polemischen und öffentlich geführten Diskurs mit Nichtchristen, Juden und Häretikern theologische Deutungsansprüche zu begründen oder auch abzuweisen.
Teil 3 geht auf die bedeutsamen, aber auch konfliktreichen An­sätze der Schule von Alexandrien ein. Klemens und Origenes werden als universale Denker beschrieben, deren geistliche Schriftinterpretation von Athanasius, Didymus und besonders Cyrill verkirchlicht und durch die Konflikte der Zeit verändert worden ist.
Teil 4 richtet den Blick auf drei ganz unterschiedliche Regionen der frühen Christenheit: Palästina, Syrien und Kleinasien. An Euseb von Caesarea, Ephraem den Syrer und den drei Kappadoziern zeigt H., dass sich trotz der großen Unterschiede im Schriftgebrauch, die durch die arianische Herausforderung be­dingt sind, doch gemeinsame Tendenzen erkennen lassen, die sich aus der Bezugnahme auf die Werke des Origenes erklären lassen.
Teil 5 behandelt die antiochenische Schule, deren Blüte mit dem Abklingen der allegorischen Exegese alexandrinischer Prägung erklärt wird. Die Antiochener, zu denen Diodor von Tarsus, Johannes Chyrsostomus, Theodor von Mopsuestia und Theodoret von Cyrus gezählt werden, bilden keine einheitliche Gruppe, sondern werden durch die Ablehnung der allegorischen Auslegung zusam­mengehalten, der sie durch eine Hinwendung zum Literalsinn der Schrift widersprechen.
Teil 6 geht auf die großen lateinischen Synthesen ein. Vorgestellt werden die hermeneutischen Entwürfe des Hilarius von Poitiers, des Ambrosius von Mailand, des Pauluskommentars des Ambrosiaster sowie des Hieronymus und Augustins. Der Einfluss der griechischen Exegese war nach wie vor groß, allerdings war der im Osten bestimmende Konflikt zwischen literaler und allego­rischer Exegese nicht mehr entscheidend. Wichtiger wurde jetzt das auf die Glaubenspraxis gerichtete pastorale und pädagogische Interesse. Unter diesen Umständen veränderte sich die Beschäftigung mit der Bibel und wurde zum Anstoß für ethische Ermahnungen und existenzielle Reflexionen in Predigt und Katechese.
Teil 7 beschließt den historischen Rundgang durch die Ge­schichte mit einem Ausblick auf die monastische Tradition. Im abendländischen Mönchtum – entstanden in den Umbrüchen der Völkerwanderung – wurde die Schrift daraufhin ausgelegt, die Ge­schehnisse der Zeit theologisch zu deuten. Dies wird an drei Persönlichkeiten entfaltet. Gregor der Große und Beda Venerabilis sind mit ihren Auslegungen des Hiobbuches und der Apostelgeschichte Zeugen für das Bestreben, dem Glauben unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen eine zeitgemäße Lebensgestalt zu geben. Die Hoheliedauslegung Bernhards von Clairvaux, in der der große Zisterzienser seine Vision eines mystisch geprägten Glaubens entwirft, bildet den bereits im Hochmittelalter liegenden Schlusspunkt dieses Rundgangs durch ein Jahrtausend Kirchengeschichte. H. beschließt seine Darstellung mit der vieldeutigen Bemerkung, die Bibel habe sich zu allen Zeiten als »ein fesselndes Buch« erwiesen, das freilich »schwer zu verstehen« sei (251).
Das Literaturverzeichnis ist verständlicherweise kurz gehalten, zeigt in der Auswahl der Bücher aber doch eine deutliche und aus deutscher Sicht betrübliche Tendenz. Neben den Quellenausgaben der behandelten Texte, die zur Weiterarbeit einladen sollen, wird fast nur auf Fachliteratur des romanischen Sprachraums verwiesen, vereinzelt tauchen auch englische Darstellungen auf. Die patristische Forschung in Deutschland wird vollständig ausgeblendet. Die beiden Hinweise auf die bereits ein Jahrhundert zurückliegenden Arbeiten von Johannes Leipoldt über Didymus den Blinden (1905) und Adolf von Harnack über Marcion (1921), das wohl nur darum Erwähnung findet, weil es 2003 (!) in franzö­sischer Übersetzung erschien, lassen den Eindruck entstehen, es gebe gar keine deutsche Patristik mehr. Darin spiegelt sich das auch auf anderen Gebieten der Theologie festzustellende Problem, dass die Re­zeption von Forschungsergebnissen über die Sprachgrenzen hinweg erschwert ist. Der Ärger darüber sollte ein Ansporn sein, wissenschaftliche Texte noch mehr, als dies bisher bereits ge­schieht, mit Zusammenfassungen in anderen Sprachen zu versehen.
Für den Rezensenten war die Lektüre des Buches von H. gleichwohl ein Vergnügen. Auf weniger als 300 Seiten gibt er weit mehr als die Antwort auf die Frage, wie der Umgang mit der Heiligen Schrift in der Alten Kirche ausgesehen habe. Er entwirft einen wichtigen Beitrag zum Verstehen des Werdens der Kirche und der sich wandelnden Sprachgestalt des Glaubens in den ersten Jahrhunderten, der in der deutschsprachigen theologischen Literatur seinesgleichen sucht.