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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

686–688

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Bremmer, Jan N. [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Pseudo-Clementines.

Verlag:

Leuven: Peeters 2010. XV, 342 S. 22,4 x 15,0 cm = Studies on Early Christian Apocrypha, 10. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-90-429-2269-3.

Rezensent:

Franz Xaver Risch

Das Interesse an den sog. Pseudoklementinen hat in den vergangenen Jahren auffällig zugenommen. Nachdem die Editionsarbeit an den wichtigsten lateinischen und griechischen Texten abgeschlossen ist, konzentriert sich die Forschung verstärkt auf die Erschließung der literatur- und kulturgeschichtlichen Komplexität. So widmet sich auch die vor 20 Jahren von dem Kirchenhistoriker Hans Roldanus initiierte holländisch-ungarische Forschungsgruppe Dutch-Hungarian research project on apocryphal literature mit dem vorliegenden zehnten Band ihrer Studies on Early Christian Apocrypha ausschließlich den Pseudoklementinen. Er enthält 17 Essays, die meistenteils auf die Beiträge der achten Konferenz (2003 in Groningen) und der neunten Konferenz (2005 in Budapest) zurückgehen. Als bewährter Editor-in-chief zeichnet Jan N. Bremmer; die Autoren werden erfreulicherweise kurz vorgestellt (X–XV).
Die Beiträge sind keinem einheitlichen Thema unterstellt. Im Großen und Ganzen folgen sie der Absicht, Homilien und Rekognitionen getrennt zu behandeln, was gelegentliche synoptische Beobachtungen natürlich nicht ausschließt. In erster Linie geht es aber nicht um einen Vergleich der Versionen, um etwa die Eigenarten der Bearbeiter und ihrer gemeinsamen Vorlage, die sog. Grundschrift, zu erkunden, sondern – neben der unvermeidlichen Quellenforschung – um die Erhellung kulturhistorischer Hintergründe durch begriffs- und ideengeschichtliche Analysen. Hinzu treten etliche literaturwissenschaftliche Fragestellungen.
In der Quellenfrage sieht man die pseudoklementinischen Autoren in der Regel als Rezipienten jüdischer, judenchristlicher oder paganer Literatur; dafür bietet dieser Band zwei interessante Beispiele: die Verarbeitung des Wächterbuchs aus dem äthiopischen Henoch (E. J. C. Tigchelaar) und die Verwendung der orphischen Kosmogonie, dessen Material in H 6 auf die orphischen Rhapsodien zurückgeht (L. Roig Lanzillotta). Dass umgekehrt pseudoklementinische Partien sogar als Zeugen für die Entwick­lung rabbinischer Literatur heranzuziehen sind, zeigt dagegen F. S. Jones am Beispiel der Aussage über die Sadduzäer in R 1.
Um die intellektuelle Position des pseudoklementinischen Autors zu erfassen, kann es genügen, der historischen Einbettung von zentralen Begriffen und Motiven nachzugehen, so der Zwei-Wege-Theorie, deren ideengeschichtlicher Zusammenhang mit den Pseudoklementinen jüdisch-christlich, nicht griechisch ist (M. Pesthy) oder dem zentralen Konflikt zwischen philosophischem und religiösem Erkenntnisanspruch in der Frage nach der Willensfreiheit (C. Jedan) oder dem hohen Begriff der Philanthropie, der profanem Bewusstsein angenäherten Version des biblischen Liebesgebotes (G. H. van Kooten).
Da aber die pseudoklementinische Philosophie, wohl aus Gründen der Popularisierung, in einer dramatisierten Form geboten wird, ist auch eine Kenntnis der Historizität der Personen selbst oder des mit ihnen verbundenen Standpunktes erforderlich. Aufschlussreich sind die Mitteilungen über die Ägypter Anoubion und Apion, auch wenn die vom pseudoklementinischen Autor benutzte Quelle (wieder einmal) nicht fassbar ist (J. N. Bremmer), ebenso über die stoische und epikuräische Position in der Fatalismus-Debatte mit Faustus (C. Jedan).
Der komplexere Lehrstoff findet verständlicherweise mehr Aufmerksamkeit als der Erzählstoff, zumal auch Analysen der Rhetorik und ihrer Funktion (T. Adamik) und besonders die Untersuchungen über das Personal zu philosophischen Hintergründen und Botschaften führen. Dabei ist die Familiengeschichte für die Autoren dieses Bandes ergiebiger als die Bildungsgeschichte des Ich-Erzählers. Was nicht nur in älterer Literatur immer wieder als oberflächliche Unterhaltung missverstanden wird, erhält umso größeres Gewicht, wenn man es als Demonstration der Lehre liest und die pseudoklementi­nische Sexual- und Familienethik als Auseinandersetzung mit der paganen Welt analysiert ( C. B. Horn) oder den Symbolgehalt des Wiedererkennungsmotivs zum Beispiel durch Klärung seiner Verflechtung mit Lehraussagen erfasst (J.Bolyki). Überhaupt beginnt man verstärkt nach dem Symbolniveau der Erzählung zu fragen und ist dabei naturgemäß mit der Durchdringung der Lehre beschäftigt. Dass es sich aber auch lohnt, den Erzählstoff gesondert ins Auge zu fassen, um strukturierende oder den Plot steuernde Elemente herauszuarbeiten, zeigt M. Vielberg, der das erst in neuerer Zeit eingeführte Paradigma des Verhältnisses von geographischer Peripherie und Zentrum auf die Pseudoklementinen anwendet.
Die thematisch vielfältigen Beiträge verdeutlichen von Neuem die Neigung der pseudoklementinischen Autoren zur synkretistischen Aneignung heterogener Lehrtraditionen. Ihre Absicht war offensichtlich die argumentativ durchdrungene Darstellung einer eigenen weltanschaulichen Summe. Die Rezipienten späterer Jahrhunderte waren damit überfordert. Die Textmasse schrumpft in einem für Literaturhistoriker bemerkenswerten Transformationsprozess, durch wiederholte Epitomierung, Änderung der Konzeption und Einbeziehung zusätzlicher Quellen, bis auf eine kurze liturgische Notiz zusammen. Diese konzentrierende Umwandlung der Pseudoklementinen in einen hagiographischen Text er­folgt auf griechischer wie auf lateinischer Seite und ist nicht vollständig rekonstruierbar; über Quellen und Bearbeitung der lateinischen Tradition durch Jakob von Vorago in der legenda aurea informiert A. Hilhorst.
Im Allgemeinen konzentriert sich das Forschungsinteresse an den Pseudoklementinen auf die übliche Kontextualisierung von Einzelthemen und Details, die man natürlich nur in Einzelunter­suchungen aufdecken kann. Die christologisch-soteriologischen Hauptmotive werden nicht in einer geschlossenen Darstellung erörtert, wie auch die Frage nach den Pseudoklementinen als einem Ganzen ausgeklammert und somit die Frage nach der Intentionsgeschichte nicht exklusiv gestellt wird, auch wenn vereinzelt intentionale Beobachtungen anklingen, z. B. die diskussionswürdige These, dass die Erzählung nicht einfach als Adaption des hellenistischen Romans, sondern als Biographie gedacht ist (I. Czachesz), und dass ein wichtiger Zugang zur Erkenntnis der Intentionsentwicklung in den Pseudoklementinen eröffnet wird, wenn mis­sionarische Situationen aus Lehre und Erzählung des ersten Buches der Rekognitionen erhoben werden (A. L. A. Hogeterp). Es ist zwar nicht Absicht dieser Veröffentlichung, die Pseudoklementinen in ihrer Gesamtheit zu interpretieren, berücksichtigte man aber Selbstbegründung und Mo­tivation der Pseudoklementinen, wie sie in den einleitenden Briefen zum Ausdruck kommen, könnte deren hermeneutische Bedeutung auch für einzelne Motive und Aspekte in die Überlegungen einbezogen werden.
Dem Band sind beigefügt ein Index und eine Bibliographie, leider nicht der Reiseplan der Clemens-Familie, auf den S. 264 verwiesen wird. Die im gleichen Jahr bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienene, den Herausgebern damals noch nicht bekannte deutsche Version der Homilien von Jürgen Wehnert soll hier ergänzend genannt werden.
Das gelungene Buch ist in seiner interdisziplinär attraktiven Reichhaltigkeit, wie die Pseudoklementinen selbst, für die Literaturwissenschaft ebenso ergiebig wie für die Religions- und Kulturwissenschaft und regt den Leser, mag er auch hier und dort Be­kanntes vorfinden, zu vielen neuen oder erneuerten Fragen an. Es wird wohl immer zutreffen, was der erfahrene Herausgeber sagt: »The Pseudo-Clementines still poses many riddles.« (23)