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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

677–680

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

McKnight, Scot

Titel/Untertitel:

The Letter of James.

Verlag:

Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2011. XXX, 497 S. 24,2 x 16,6 cm = The New Interna­tional Commentary on the New Testament. Lw. US$ 55,00. ISBN 978-0-8028-2627-5.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Der in den USA bekannte evangelikale Neutestamentler Scot McKnight (North Park University, Chicago) legt in The New International Commentary on the New Testament (NICNT) einen um­fangreichen (497 Seiten), gründlichen und gut geschriebenen Kommentar zum Jakobusbrief auf der Grundlage des griechischen Textes vor. Der Kommentar basiert entsprechend den Grundsätzen der Kommentarreihe auf dem Versuch, die exegetische Wissenschaft mit dem Verständnis der Schrift als Gottes unfehlbares Wort zu verbinden, und hat einen pastoralen und didaktischen Zuschnitt. Auffallend und schwer zu erklären ist der Verzicht auf die Dokumentation und Diskussion der handschriftlichen Überlieferung sowie der Bezeugung in der frühchristlichen Literatur (besonders Euseb H .E. III 23, der deutliche Zweifel an der Verfasserschaft des Jak durch Jakobus äußert).
Der Band teilt sich in Introduction (1–55) und Commentary (59–461). Es schließen sich Indizes zu Autoren, Themen, Bibelstellen und antiker Literatur an (462–497). Die Bibliographie ist verhältnismäßig kurz, aber substanziell und aktuell und umfasst die wichtigen Titel, darunter erfreulich viele deutschsprachige Publikationen, auf die sich der Vf. im Kommentar häufig bezieht (XIX–XXX). Der Vf. verweist auf die umfassende Bibliographie bei W. Popkes – eine sehr sinnvolle und nachahmenswerte Praxis, die die ständige Wiederholung und fast uferlose Ausweitung von Bibliographien vermeidet. Zunächst stellt der Vf. den Jak in den Zusammenhang von »God’s Story as the Story of Israel«: »James reads the Bible (intertextually) as story with a plot that comes to a new chapter in Jesus Christ« (5). Die Story-Metapher dient als theologischer umbrella term.
Was folgt, ist eine vehemente Apologie des historischen Jakobus, des Jakobusbriefes und ihrer Zusammengehörigkeit: »The man and the letter have suffered the same fate: oblivion or close to it […] James has become the one significant leader of the earliest churches who is now mostly ignored« (10). Der Vf. macht zuerst die entstehende Theologie oder ›Orthodoxie‹ seit Athanasius für diesen Be­deutungsverlust verantwortlich, dann die Reformation, schließlich auch die deutsche Exegese: »Famously, Dibelius, in that old Teutonic style, simply announced that James had no theology, and Rudolf Bultmann, fascinated as he was with Lutheran and Pauline theology, completely ignored James in his Theology of the New Testament« (9). Der Vf. nimmt gleich noch Dominic Crossan und David E. Aune in diese bunte Reihe auf (in Anm. 39 auch J. Gnilka, G. Strecker und K. Berger). Dagegen setzt er einen Rückgang zu den Wurzeln: »Only by digging back to the earliest days will we see clearly enough to rescue James from behind the scenes of ortho­-doxy’s theological focal points and discover, as if all over again, the inner vibrations of the earliest tellings of the Christian Story. At the heart of that Story was Torah« (11). Es geht dem Vf. um das Jerusalemer Judenchristentum vor 70 n. Chr. als das Herz des entstehenden Christentums und um Jakobus als den leader dieses Juden­-chris­tentums, das dem Land Israel, Jerusalem und dem Volk Israel verpflichtet bleibt, für das zugleich aber gilt: »The Judaism of James is focused on faith and piety centered on Messiah Jesus« (13). Zu­sam­mengefasst: Jakobus schreibt nicht spekulative Theologie, sondern »paraenesis, in fact a ›paraenetic encyclical‹, to the twelve tribes in the Dispersion about concrete problems« (13). Aus diesem vorab entworfenen Szenario ergibt sich alles Weitere.
Wer war »Jakobus«? Der Vf. stellt sehr übersichtlich und korrekt die (bekannten) unterschiedlichen exegetischen Optionen zur Verfasserfrage dar und resümiert: »In my estimation, the arguments against the traditional authorship are inconclusive; the arguments for traditional authorship are better, but hardly compelling. I draw two conclusions: First, when the name ›James‹ appears in James 1:1, it is a reference, whether real or pseudonymous, to the brother of Jesus. Second […] I will assume the traditional authorship in what follows, knowing that we have failed to prove conclusively that James wrote the letter« (37). Der Vf. beruft sich für diese Option auf F. Mußner, M. Hengel und L. T. Johnson. Adressaten waren »a number of churches/synagogues of messianic Jews in the Diaspora« (38).
Die wichtigsten Themen des Briefes sind Gott und Ethik. Der Vf. betont besonders die Theologie und will ihr auch eine soteriolo­-gische Komponente abgewinnen (39 f.). Die Theologie hat christologische Aspekte, und der Kyrios-Titel wird auch für Jesus ge­braucht: »This heightened christology is reshaping early Christian theology and makes a cameo appearance when James refers to Jesus Messiah as the ›Glorious One‹ in 2:1« (43). Die Ethik ist Tatethik: »The most significant theological posture of James is that he thinks his audience should not only listen to him but do what he says« (39).
Bei dem Thema Genre und Aufbau übergeht der Vf. die Problematik des Briefgenres, speziell der Diasporabriefe, und konzentriert sich stattdessen auf die Struktur. Er gibt eine sehr nützliche Darstellung der Analysen von F. O. Francis, P. Davids, R. P. Martin, L. T. Johnson, D. J. Moo, H. Frankemölle, W. Popkes, L. L. Cheung, M.E. Taylor und R. Bauckham (M. Dibelius fehlt). Der Vf. selbst plädiert – gegen Dibelius – für innere Kohärenz statt für eine Aufeinanderfolge voneinander unabhängiger Spruchreihen und Abhandlungen, bleibt aber gegenüber aktuellen rhetorischen An­sätzen zurückhaltend und bevorzugt eine Variante der herkömmlichen topischen Gliederung jüdischer Weisheitstexte (so allerdings doch auch schon Dibelius!). Sein eigener Gliederungsvorschlag fällt daher ähnlich kleinteilig wie der von Dibelius und anderen Kommentaren aus: 1. Salutation (1:1), 2. The Christian and trials (1:2–18), 3. General exhortations (1:19–27), 4. The Christian and partiality (2:1–13), 5. The Christian and works (2:14–26), 6. General exhortations for teachers (3:1–4:12), 7. The messianic community and the wealthy (4:13–5:11), 8. Concluding exhortations (5:12–20) (55). Der Vf. erkennt acht thematische Einheiten mit – hier nicht dokumentierten – Subeinheiten, ironischerweise findet auch Dibelius acht Einheiten.
Ich beschränke mich auf zwei Bemerkungen zum erklärenden Teil des Kommentars. 1. Zu Vers 1,1 wiederholt der Vf. seine These, der Brief sei von Jakobus, dem Herrenbruder und Leiter der Jerusalemer Gemeinde messianischer Juden verfasst und gerichtet an die »messianic Jewish community or communities, which remain at­tached to the non-messianic Jewish community, which are resid­ing in the Dispersion […] James sees such a community as part of Israel in the ethnic and covenant part of that term« (68). Der Vf. liest die Adresse also ausdrücklich nicht metaphorisch und bewertet sie nicht als pseudepigraph (mit einer gewissen Vorsicht). Als Hintergrund schlägt der Vf. Apg 8,1 vor.
2. Mehrere Aussagen zum ›Gesetz‹ im Jak haben besonderes theo-logisches Gewicht. Wie interpretiert der Vf. das ›Gesetz der Freiheit‹ in 1,25 und 2,12? 1,25 ist der letzte Teil der »General Exhortations 1:19–27« (133–172). Der Vf. überschreibt 1,26 f. als an »Exhortation on Pure Religion« (162). Die Texteinheit 2,8–13 bezeichnet der Vf. als instruction (203) zum Abschluss der größeren Einheit »The Chris­tian and Partiality 2:1–13« (173–224). Das Gesetz der Freiheit versteht der Vf. aus einer judenchristlichen Sicht. Es gehört zum »Christian Judaism […]: it refers to the Law of Moses as understood by and interpreted by Jesus in accordance with the double commandment to love God and others« (155). Was ist aber Christian Judaism? Der Vf. weist selbst sehr richtig nicht nur auf Mk 12,28–32 par., sondern auch auf Gal 5,13 f. und Röm 8,2 hin. Aber ist Paulus dann nicht auch dem ›Christian Judaism‹ verpflichtet? Der Vf. denkt dagegen an die Jerusalemer erste messianische Gemeinde und präzisiert: »This community, however, was not just committed to Torah. It was also committed to the interpretation of that Torah by Jesus« (157). Der Kommentar zu 2,12 geht in dieselbe Richtung: »the law of liberty is the law of loving your neighbor as yourself« (220).
Blicken wir noch auf den Exkurs James and Paul (259–263, sehr profunde Literaturreferenzen, auch deutschsprachige Lit.). Der Vf. konstatiert zu Recht: »The concentration on ›faith‹ and ›works‹ and their relationship is a peculiarly Pauline problem, and James has the same problem. No one else in the New Testament enters into this verbal and theological struggle as do James and Paul« (261). Auch Jak 2,14–26 ist Niederschlag der persönlichen Beziehung zwischen Paulus und Jakobus dem Herrenbruder. Der Vf. schlägt folgende zeitliche Sequenz vor: »1. Paul’s conversion and early articulations of theology (33–48 AD), 2. James’s response to what he was hearing (ca. 45+AD; cf. Gal.2:12; daher die relative frühe Datierung des Briefes), 3. a public discussion at which James endorses Paul (Gal 2:9), 4. Paul’s later more mature articulation, taking into consideration his discussions with James« (261). Der Jak ist dann nicht Ausdruck der Reaktion auf eine voll entwickelte ›Rechtfertigungslehre‹ im Gal und Röm, sondern Ausdruck der Auseinandersetzung Jakobus’ des Herrenbruders mit dem frühen Paulus. Der Vf. schließt daraus: »My conclusion is that James is responding either to Paul in the flesh or, which is slightly more likely, to the early followers of Paul [Wie passt das zu der Frühdatierung?] who had embraced his message and driven it to some distortions« (263). Wichtig ist die Überlegung: »And one should not ignore Rom 2:6–16 in this discussion, a text that connects Paul more closely to James« (263).
Im Rückblick auf den Kommentar wird Folgendes deutlich: Der Vf. verbindet im Einleitungsteil einen wenig ausgearbeiteten kanonischen Ansatz mit der häufig verwendeten story-Metapher, die dazu dient, eine präzise theologische Terminologie (Heilsgeschichte) pseudo-literaturwissenschaftlich zu umspielen. Sicher kennt der Jak ›Gottes Geschichte mit den Menschen‹ (1,18) und ihr bevorstehendes Ende (5,8 f.). Aber wie der Vf. selbst konstatiert ist nicht diese, sondern die Ethik eigentlicher Gegenstand des Briefes. Der Vf. hätte den spezifischen Typus der Ethik im literarischen, religiösen und philosophischen zeitgenössischen Kontext stärker herausarbeiten müssen: Was ist das Spezifikum des Jak? Der Vf. löst auch seine Forderung nach einer profilierten Darstellung der Theologie des Briefes nicht überzeugend ein, obwohl er wichtige Hinweise gibt: die hohe Bedeutung von Monotheismus, Gesetz und Weisheit, die ethische Thematik und die Nähe zu paulinischen Themen (die man deutlich stärker betonen könnte). Die ›teutonische‹ Wahrnehmung eines Mangels an Theologie hat der Vf. nicht widerlegt.
Der ganze Duktus seiner Erklärung ist nur dann überzeugend, wenn seine Prämisse, der Brief sei von Jakobus dem Herrenbruder verfasst und Ausdruck der judenchristlichen messianischen Ge­meinde und ihres Führers in Jerusalem, zutrifft. Unter dieser Voraussetzung wäre dem Vf. eine homogene historische und theolo-gische Erklärung gelungen. Aber eben hier setzen die Fragen an: 1. Weshalb ist die altkirchliche Überlieferung so schwach? (Auch ein Hinweis auf den Abbruch der Jerusalemer Tradition nach 70 n. Chr. wäre nicht stichhaltig, da die Überlieferung von Jakobus selbst sehr gut ist, aber die Verfasserschaft des Briefes bestritten wird.) 2. Ist es wirklich denkbar, dass Jakobus das Griechisch des Briefes geschrieben habe? Die an Hengel anschließenden Überlegungen des Vf.s überzeugen nicht. 3. Hätte sich der Herrenbruder so vorgestellt wie der Autor in 1,1? 4. Ist es vorstellbar, dass der Bruder Jesu Vers 2,1 formuliert hätte? 5. Ist es vorstellbar, dass der Bruder Jesu nicht explizit auf Jesu Lehre zurückgegriffen hätte, zumal wenn das Toraverständnis des Jak durch Jesu Toraverständnis geprägt ist? 6. Lässt sich die Überlieferung von Jakobus dem Herrenbruder mit der vollständigen Ethisierung des Gesetzes in Einklang bringen, wie sie in Jak vorliegt? Wo findet sich in Jak Toraobservanz, wie sie mit Jakobus dem Gerechten in Zusammenhang gebracht wird? Was bedeutet das Syntagma ›Freiheit des Gesetzes‹ in diesem Zusammenhang? Der Vf. hätte diese Fragen beantworten müssen, um seinen Ansatz wirklich überzeugend zu machen.
Insgesamt handelt es sich um einen weiteren soliden konserva­tiven Kommentar, der die von der neuen Rhetorik- und Epistolo­graphieforschung, dem Mündlichkeits-/Schriftlichkeits- so­wie dem Pseudepigraphie-/Autorisierungsdiskurs aufgeworfenen Fragen nicht selbständig weiterführt. Das konservative Bild von Jakobus dem Herrenbruder und dem Verfasser des Jak dominiert am Ende die im Einzelnen durchaus differenzierte Textwahrnehmung.