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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

671–672

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schulmeister, Irene

Titel/Untertitel:

Israels Befreiung aus Ägypten. Eine Formeluntersuchung zur Theologie des Deuteronomiums.

Verlag:

Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien: Lang 2010. 343 S. m. Tab. 24,0 x 17,0 cm = Österreichische Biblische Studien, 36. Geb. EUR 63,80. ISBN 978-3-631-60210-2.

Rezensent:

Udo Rüterswörden

Es handelt sich um die leicht überarbeitete Wiener Dissertation aus dem Jahre 2006, die von G. Braulik betreut wurde. Die methodische Vorgehensweise der Autorin Irene Schulmeister ist im Wesentlichen synchron und versucht, einem Defizit der bisherigen Forschung abzuhelfen, der oftmals die kontextbedingte Gestaltung und polyfunktionale Vernetzung der Exodusaussagen in den theologischen Buchzusammenhang verloren gegangen sei (13).
Gemäß dem Untertitel der Monographie handelt es sich um eine Untersuchung der Formeln, mit denen im Deuteronomium auf den Exodus hingewiesen wird. Es sind Sätze השׂע רשׁא Formulierungen, mit אצי und Wendungen mit הדפ. Entsprechend gliedert sich der Hauptteil der Arbeit in diese drei Rubriken.
Einen heuristischen Leitfaden stellen die Leitfragen dar: »Woher bzw. Woraus wurde Israel geführt (terminus a quo)? Mit welchen Wendungen wird Jahwes Handeln qualifiziert (Qualifizierungs­wendungen)? Wer hat es gesehen (Element der Augenzeugenschaft)? Wie wird Ägypten gekennzeichnet (Ägypten-Element)?« (14).
Der erste Teil der Untersuchung, in dem es um die Aussagen geht, die mit השׂע רשׁא formuliert sind, setzt mit Dtn 4,34 ein. Hier ist eine siebenteilige Reihe von Qualifizierungswendungen anzutreffen: Erprobungen, Zeichen, Wunder, Krieg, starke Hand, ausgestreckter Arm und großer Schrecken. Es ergibt sich somit die Reihenfolge: Ereignisse in Ägypten – Herausführung – Schilfmeer – Wüstenzeit (33). Aus der asyndetischen Fügung nach תסמ ergebe sich, dass dieser Ausdruck die Leseanweisung für das Folgende gibt (34); d. h. die Qualifizierungswendungen sind als »Prüfungen« zu verstehen.
Dies ist im Deuteronomium nicht durchgängig der Fall; so steht in Dtn 7,19 die Kopula nach תסמ, worauf die Vfn. mit Nachdruck hinweist (59). Wenn auch das Festhalten an der eigenen Deutung ein wenig arbiträr wirken mag, so ist doch der Hinweis auf die Schwachstelle der eigenen Argumentation ein Ausweis wissenschaftlicher Redlichkeit.
Allerdings fehlt die Kopula in den Kodizes Kennicott 9.18.75.150. 152.167.199.232 sowie in der Septuaginta, Peschitta, dem Targum Pseudo-Jonathan, dem Samaritanus und Zeugnissen aus Qumran. Dies muss nicht unbedingt eine Assimilation an den sonst üb­lichen Sprachgebrauch bedeuten, wie es C. McCarthy in der Editio quinta zum Deuteronomium insinuiert. Die vom Codex Leningradensis abweichenden Lesungen sind eine lectio brevior, möglicherweise eine lectio difficilior. Sollte diese Abweichung die ur­sprüng­liche Lesart sein, würde dies die Annahme der Vfn. stützen. Im Hinblick auf die Asyndese wären gleichwohl die texkritischen Angaben zu Dtn 29,2 in der BHS und zu Dtn 4,34 in der Quinta zu erörtern. Vielleicht rächt es sich hier, wenn auf der Basis des Endtextes gearbeitet wird, »wie er im MT weitgehend zuverlässig vorliegt« (13, Anm. 4). Es gibt einen Exkurs zu den Harmonisierungstendenzen der Septuaginta (291–304), der zum Ziel hat: »nicht das Eruieren der wahrscheinlichsten Lesart, sondern das Bemühen, die zahlreichen Textdifferenzen in LXX wahrzunehmen, einzuordnen und in ihrer Gesamtheit zu verstehen« (302). Geht man die Textkritik im Sinne einer Rezeptionsgeschichte an, so wäre für das o. g. Beispiel Dtn 7,19 festzuhalten, dass für einige Texttradenten (darunter L, V, TO und TN) die von der Vfn. vorgebrachte Deutung offensichtlich keine Rolle spielte – wie steht es dann mit dem Autor oder Redaktor?
Zu den theologisch dichten Interpretationen gehört die Mahnung zur Erinnerung in Dtn 15,15. Im Gegensatz zu C. Hardmeier legt die Vfn. den Schwerpunkt nicht auf die Knechtschaft, sondern auf die Herausführung: »Die Erinnerungsmahnung erfüllt ihre Funktion nicht nur als Reaktivierung der eigenen Leidenserfahrung – gerade so wäre es dann doch wieder kaum mehr als ein ›psychologisierendes Mitfühlenkönnen‹ wie es ist, Sklave, rechtlos, schutzbedürftig usf. zu sein, und würde letztlich ein Helfen aus mitfühlendem Mitleid bedeuten. Das Deuteronomium denkt hier anders […] Die geforderte Erinnerung ermöglicht hier nicht einfach nur Empathie und das Handeln Gottes ist hier nicht einfach nur Motivation, sondern Vorausbild (im Aspekt des Leids und – nachzuahmend – der Befreiung) und zielt auf Anteilgabe, Weitergabe, von selbst empfangenem Segen und Freiheit.« (268) Ein entscheidender Gesichtspunkt ist der Rollenwechsel: »Der Herr des Sklaven ist nun das Israel, das in Ägypten Sklave war, und Jahwe als Herr überträgt seine Funktion als Befreier« (ebd.).
In ihrer synchronen Analyse ist die Vfn. in ständigem Gespräch mit G. Braulik, N. Lohfink, G. Barbiero, R. Gomez de Araújo und S. Kreuzer, dem eine wichtige Studie zu dem Thema zu verdanken ist. Zwar kommen auch andere Positionen der Deuteronomiumforschung zu Wort, doch bleibt wegen der synchronen Vorgehensweise der Arbeit vieles unberücksichtigt.
So würde ich die mit dem Zeichen und Wunder verbundene Problematik in Dtn 13,2–4 für einen Nachtrag halten. Gleichwohl ergibt sich für die Vfn. eine recht geschlossene Aussage:
»A Auftreten des Propheten, Ankündigung eines Zeichens oder Wunders (V. 2)
B Rede: Verführung zum Abfall (V. 3a)
A’ Auftreten des Zeichens und Wunders, das der Prophet angekündigt hatte (V. 3b)
B’ nicht-hören: nicht abfallen (V. 4a)« (233)
Die Interpretation des jetzt vorliegenden Textes als A–B–A’–B’ Schema ist nicht ohne Probleme: Die Verführung zum Abfall steht in V. 3b (nicht in 3a), und das Auftreten des Zeichens und Wunders wird in V. 3a beschrieben (nicht in 3b), so dass das schöne Schema nicht so recht mit dem masoretischen Text zusammengehen will. Zudem kongruieren nur die deutschen Verben, nicht die hebräischen: »Auftreten« wird in V. 2 mit םוק formuliert, in V. 3 mit אוב; »Ankündigen« wird in V. 2 mit ןתנ formuliert, in V. 3 mit רבד; »Abfall« heißt in V. 6 הרס – ein entsprechender hebräischer Terminus ist in V. 3 und 4 nicht zu finden; daher handelt es sich wohl um eine von der Vfn. eingetragene Deutung.