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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

665–667

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ehrenreich, Ernst

Titel/Untertitel:

Wähle das Leben! Deuteronomium 30 als hermeneutischer Schlüssel zur Tora.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2011. XII, 318 S. m. Tab. 24,0 x 17,0 cm = Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, 14. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-447-06379-1.

Rezensent:

Michaela Geiger

Ernst Ehrenreich widmet sich in seiner von Georg Fischer betreuten Dissertation einem für die Konzeption des Buches Deuteronomium zentralen Kapitel: In Dtn 30 wird die »Gültigkeit des dtn Rechts für die Zeit nach der Krise und damit für die nachexilischen AdressatInnen der Texte« (27) geklärt und die »Gewalt im Gottes- und Menschenbild« bewältigt (27). Darin hat die Herzensbeschneidung (Dtn 30,6) eine Schlüsselposition (274).
Die Arbeit reiht sich in die synchrone Forschung zum Dtn ein, die in den letzten Jahren stetig gewachsen ist (Lohfink, Sonnet, Finsterbusch, Taschner, Geiger); die Auseinandersetzung damit findet jedoch nur in wenigen Anmerkungen (Nr. 2–9) statt. Methodisch folgt E. der Einführung »Wege in die Bibel« von Georg Fischer, ohne freilich sein exegetisches Vorgehen mit Blick auf den Text zu begründen. Er gliedert seine Arbeit in einem Dreischritt (5) aus »solidem Zugang zum Text« (I., 28–70), Auslegung »anhand von Beobachtungen zu Gestalt, Gestaltung, Gehalt und auf dem Hintergrund seiner Beziehungen zu literarischen und anderen verfügbaren Kontexten« (II., 71–271) sowie Ergebnissen und daraus abgeleiteten »Impulsen für das geistliche Leben« (III., 272–279). Für die Bearbeitung der Gewaltthematik bezieht E. sich auf Gerlinde Baumann (Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen, Darmstadt 2006).
Der »solide Zugang zum Text« beginnt mit Überlegungen zur Abgrenzung des Textes und enthält eine sorgfältig kommentierte Übersetzung, die eng am Hebräischen bleibt – auf Kosten der deutschen Grammatik: »… was ich dir anordnend (bin) heute« (Dtn 30,2). Im Anschluss werden Aufbau und Gliederung von Dtn 30 durch die Analyse der handelnden Personen, zeitlichen Perspektiven und Wortwiederholungen im Text entwickelt und in einer Reihe von Schaubildern dargestellt.
Die »Auslegung« macht den Hauptteil der Arbeit aus (II.). Sie folgt der Gliederung in Dtn 30,1–10 (1., 71–210), Dtn 30,10–14 (2., 211–232) und Dtn 30,15–20 (3., 233–271). Innerhalb der Abschnitte werden jeweils thematische Schwerpunkte gesetzt wie »Segen und Fluch« (1.1 und Exkurs I), »Hören auf die Stimme JHWHs« (1.3.3) oder »Beschneidung des Herzens« (1.4.5) und wichtige Befunde in Grafiken dargestellt. Darüber hinaus behandelt E. die intertextuellen Bezüge zu Dtn 28; 29; Ex 32–34; Dtn 13; 1Kön 8 f.; Neh 1; Dan 9; Bar 1–3 und Röm 10,4–13. Die Untergliederung der Intertexte in gebende und empfangende (25) verkürzt jedoch das Konzept der Intertextualität, so dass lediglich intendierte Bezüge zwischen den Texten aufgezeigt werden können. Welche neuen Lesarten durch das Echo von Intertexten entstehen, wird nicht ausgeführt.
Für die Deutung von Dtn 30 spielt die Unterscheidung zwischen der »fiktiv erzählten Welt«, in der Mose und das Volk Israel in Moab die Protagonisten sind, und der »realen Welt« eine wichtige Rolle (16–18): In Dtn 30,1–10 komme ein »realer Autor« zu Wort, der sich an »reale AdressatInnen« richtet (84). Mit der von Eckart Otto übernommenen Datierung wären diese in frühnachexilischer Zeit anzusiedeln (20). Die Textpragmatik wird von E. jedoch nur teilweise erfasst, da nicht thematisiert wird, ob die in Dtn 30,1–10 im futurischen Modus genannten Gewalterfahrungen denen aller »re­alen AdressatInnen« entsprechen. In der nachexilischen Zeit wären sowohl implizite ›AdressatInnen‹ denkbar, die nicht im Exil waren, wie auch solche, die aus dem Exil heimgekehrt sind. Ob letztere ihre Rückkehr jedoch als Leben in Fülle (V. 9) wahrgenommen haben, ist fraglich (vgl. die in Esr/Neh geschilderten Konflikte). Durch die Anrede in der 2. Person identifiziert Dtn 30,1–10 die impliziten Adressaten mit den ›HeimkehrerInnen‹ und will so dazu anleiten, das Leben im Land als Erfüllung der Sehnsucht zu begreifen. Diese Vorstellung soll Heimkehrer und im Land Gebliebene verbinden und ihre gemeinsame Identität formen. Eine solche Vertiefung der Textpragmatik hätte zu spezifischeren Ergebnissen führen und die Bearbeitung der Gewalterfahrungen konkretisieren können.
E. kommt zu dem Ergebnis, dass in Dtn 30 die äußere Bewegung ins Land mit der inneren Bewegung zu JHWH verbunden werde. Die erneute Gottesbeziehung wird durch mehrere theologische Umdeutungen gegenüber den Gesprächstexten ermöglicht: Gegen Dtn 29,15–27 wird Gott von der Schuld am Exil entlastet, indem er zum Garanten der Selbstverfluchung der Gemeinschaft bei Vertragsbruch wird. Durch die Aufnahme von Ex 34,6 in Dtn 30,3 wird der Moabbund »in die Kontinuität mit dem Sinaibund gestellt, und durch das Bundeszeichen der Beschneidung wird er mit der Linie des Abrahambundes (Gen 17) verknüpft« (274). Die Herzensbeschneidung befähige die Gemeinschaft dazu, die dtn Gebote in Zukunft zu halten, so dass das Dtn zum »gültigen Rechtskorpus für die realen AdressatInnen des Pentateuch« werde (274). Der von E. erhobene methodische Anspruch der »diachron reflektierten Synchronie« (18) wirft allerdings die Frage auf, welche Abschnitte von Dtn 30 sich überhaupt auf die Größe »Pentateuch« oder »Tora« beziehen können.
Die vorliegende Studie enthält eine Fülle interessanter Beobachtungen zu Dtn 30, die jedoch mit Blick auf den Untertitel deutlicher als »hermeneutischer Schlüssel zur Tora« hätten strukturiert und konkretisiert werden können.