Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

93 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sons, Rolf

Titel/Untertitel:

Seelsorge zwischen Bibel und Psychotherapie. Die Entwicklung der evangelischen Seelsorge in der Gegenwart.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 1995. XI, 217 S. gr.8o = Calwer Theologische Monographien, 24. Kart. DM 48,­. ISBN 3-7668-3342-1.

Rezensent:

Ernst-Rüdiger Kiesow

An Versuchen, das Verhältnis von Theologie und Psychologie, bzw. Seelsorge und Psychotherapie, eindeutig zu bestimmen, besteht kein Mangel, wahrscheinlich deshalb, weil jede neue Theologengeneration sich vor die gleiche Problematik gestellt sieht und weil Eindeutigkeit letzten Endes doch nicht zu erzielen ist. Was diese unter dem Einfluß von M. Seitz entstandene Erlanger Dissertation unternimmt, rechtfertigt sich vor allem dadurch, daß sie nach einem Vierteljahrhundert die sogenannte Seelsorgebewegung bilanziert und eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Richtungen pastoralpsychologischer Theoriebildung und Praxis liefert.

Ohne auf die früheren Auseinandersetzungen um Psychotherapie und Seelsorge näher einzugehen, schildert S. zunächst die Entstehung der Seelsorgebewegung seit etwa 1970 und befaßt sich sodann vor allem mit den Konzeptionen der Therapeutischen Seelsorge (u.a. Thilo), der Klinischen Seelsorgeausbildung (u.a. Piper, Becher) und der Pastoralpsychologie (bes. Scharfenberg) sowie mit ihren psychoanalytischen, gruppendynamischen und gesprächstherapeutischen Komponenten. Er referiert nicht nur die Kritik an diesen Richtungen durch evangelikale Kreise, durch H. Tacke und durch G. Besier, sondern fügt ihr auch eigene Kommentare und Bewertungen hinzu. Er schlußfolgert dann: "Der Streit um die Seelsorgebewegung ist beigelegt." (73) Die Gemüter seien beruhigt und die "Heilshoffnungen, die sich mit der Seelsorgebewegung verbanden," "verblaßt" (ebd.) ­ ein fragwürdiges Pauschalurteil, das den eigentlichen Motiven der Entwicklung nicht ganz gerecht wird und auch nicht ausdrücklich eingesteht, daß die konservativen Kritiker von einst inzwischen längst selber auf diesen Zug aufgesprungen sind und die pastoralpsychologischen Erkenntnisse oder Methoden für sich vereinnahmt haben. Das zeigen die im folgenden dargestellte "nuthetische Seelsorge" von J. E. Adams, die S. allerdings mit Recht vorwiegend kritisch würdigt, und die "Biblisch-therapeutische Seelsorge" des Psychologen M. Dietrich, für die er sich wesentlich positiver ausspricht. Sein Fazit dazu: "Seelsorge ist so ein Geschehen, in dem in, mit und unter psychotherapeutischer Methodik Gottes Wirken geschieht und zu Tage tritt. Darin besteht ihre Identität." (111) Eine solche Feststellung wirft die Frage auf, wieso sie nicht ebensogut für die theologischen Überzeugungen der Seelsorgebewegung gelten sollte, denen S. häufig die Vermischung von Psychotherapie und Seelsorge vorwirft (bes. bei Stollberg und Scharfenberg). Differenziert und z.T. distanziert äußert sich S. bei aller Anerkennung ihrer echten Motive auch über die seelsorgerlich-psychologischen Praktiken der charismatischen Richtungen (bes. Deutsche Gesellschaft für Christliche Psychologie, IGNIS), u.a. weil sie Seelsorge und Psychologie nicht deutlich unterschieden und weil sie geistliche Heilung verfügbar zu machen scheinen.

Im letzten Viertel des Buches (151-200) geht es sowohl um die biblisch-theologischen Grundlagen der Seelsorge in der Sicht des Autors wie um neue Ansätze in der Psychotherapie (u.a. "kognitive Wende" in der Verhaltenstherapie) und um die Unterschiede im Menschenbild auf beiden Seiten. S. bemüht sich dann auf seine durchaus eindrückliche Weise um die Klärung der Gegensätze mit dem Modell der lutherischen Lehre von den zwei Regimenten Gottes, was übrigens schon Asmussen mit seiner bekannten Unterscheidung zwischen Seelsorge und Seelenführung versucht hatte! S. hält aber mit Recht an der "Komplementarität von Seelsorge und Psychotherapie" (186 ff.) fest und widersetzt sich sowohl der falschen Trennung wie der falschen Vermischung der Bereiche. Das klingt zwar nicht ganz neu, wird aber überzeugend dargelegt und dürfte bei allen seriösen Theologen und Therapeuten auf Zustimmung stoßen. Etwas überraschend wirkt das Zugeständnis, daß die Psychotherapie "sowohl auf das Gesetz in seiner überführenden Funktion als auch auf das Evangelium von der Annahme des Menschen verweisen" könne (190) und daß "die Verbindung der beiden Regimente Gottes" "in der Person des therapeutisch geschulten Seelsorgers" geschehe (191).

Das Buch ist übersichtlich und verständlich abgefaßt. Es zeugt von Sachkompetenz und von einem im guten Sinne vermittelnden Standpunkt. Auch für die Ausbildung und die theologisch interessierte Öffentlichkeit kann es empfohlen werden. Grundsätzliche Einwände hat der Rez. gegen den Titel, der eigentlich "Seelsorgebewegung oder Seelsorgemethodik zwischen Bibel und Psychotherapie" lauten müßte, denn auch der Autor dürfte der Ansicht sein, daß Seelsorge als ganze, besonders in ihrer alltäglichen Praxis oder ihren diakonischen Erscheinungsformen, nicht in den erwähnten (zumeist) theoretischen Konzeptionen aufgeht und sich literarisch überhaupt nicht oder allenfalls exemplarisch darstellen läßt. Außerdem ist der Wissenschaftsbegriff des Autors anzufragen, wenn er u.a. im Anschluß an den inzwischen wegen seiner Einseitigkeiten bekannten G. Besier nur die "validen" Methoden der Psychotherapie als wissenschaftliche gelten lassen will und nur solche ihrer Erkenntnisse auch für die Seelsorge als akzeptabel ansieht, die empirisch überprüfbar und unter festgelegten Bedingungen wiederholt reproduzierbar sind (vgl. 193). Psychotherapie hat es aber ­ ebenso wie weithin die Medizin, die Pädagogik und erst recht die Seelsorge ­ nicht mit neutralen Sachverhalten zu tun, sondern mit einmaligen, lebendigen Personen, deren subjektive Faktoren oder unterschiedliche Anlagen und Situationen nicht allein mit naturwissenschaftlichen Kriterien erfaßt und schon gar nicht "wiederholt reproduziert" werden können. Insofern haben neben klinischer, Verhaltens- und Kognitiver Psychotherapie auch die sogenannten humanistischen, tiefenpsychologischen oder personalen Psychotherapien ihr Recht, wenn ihre Aussagen auch nur teilsweise als wissenschaftlich "valide" und überprüfbar erscheinen. Natürlich muß man, wie S. betont, ihre weltanschaulichen Prämissen kennen und kritisch berücksichtigen ­ aber welche Therapie oder Anthropologie hätte solche Prämissen nicht, von der Theologie als "Komplementärwissenschaft der Seelsorge" ganz zu schweigen?!