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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

654–656

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lafond, Gérard

Titel/Untertitel:

L’éveil du regard. Origine et destinée de la Création.

Verlag:

Paris: Lethielleux 2010. 647 S. 23,5 x 15,2 cm = Documents. Kart. EUR 35,50. ISBN 978-2-249-62045-4.

Rezensent:

Christoph Schneider

Die Eigenart des Buches von Gérard Lafond OSB kann nur unter Berücksichtigung seines monastischen und kontemplativen Entstehungskontextes richtig verstanden werden. L. trat im Jahre 1948 ins nordfranzösische Benediktinerkloster Saint-Wandrille de Fontenelle (Seine-Maritime) ein. Nach theologischen und exegetischen Studien am Institute Catholique de Paris und am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom instruierte er über Jahrzehnte hinweg Or­densleute und Laien im Lesen der Heiligen Schrift. Als Abt der Benediktinerabtei Saint-Paul de Wisques (Pas-de-Calais) gründete er 1997 das Projet Nouveau Regard. Ziel dieses interdisziplinär ausgerichteten Projekts ist es, die verschiedenen Perspektiven auf die Schöpfung zu vereinheitlichen, ohne ihnen ihre Eigenart zu nehmen und ohne sie miteinander zu vermischen. Die Devise lautet: »Distinguer pour unir exclut toute confusion comme toute séparation entre les disciplines mises à contribution« (3. These, 635). Was angestrebt wird, ist eine »Synthese« zwischen den christlichen Offenbarungsinhalten, den Wissenschaften, der Philosophie und den Erfahrungen von Kontemplativen und Künstlern. Auch Vertreter aus politischen, ökonomischen und sozialen Tätigkeitsbereichen werden in den Dialog mit eingeschlossen.
L.s Buch ist einerseits die Frucht seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Lehrer der Heiligen Schrift und steht andererseits in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Projet Nouveau Regard. Aufgrund des Untertitels des Buches und der Spiralgalaxie auf der Titelseite könnten bei manchen Lesern allerdings falsche Erwartungen geweckt werden. Es handelt sich bei der Arbeit L.s nicht um eine religionsphilosophische Abhandlung zum Verhältnis von Glauben, Theologie und den Naturwissenschaften. Knappe methodologische Reflexionen zum interdisziplinären Dialog finden sich hauptsächlich in der Einleitung, in den Schlussfolgerungen sowie in den Thesen zum Projet Nouveau Regard am Ende des Buches. Die Grundthese, die von ihm in der Einleitung vorausgesetzt wird, lautet wie folgt: Obwohl die Wissenschaften und der Glaube das gleiche Verstehensobjekt haben, nämlich den Menschen in seinem Verhältnis zum Universum, handelt es sich um zwei verschiedene Zugangsweisen zur Wirklichkeit, die nicht notwendigerweise in einem Gegensatz stehen. Es stehe außer Zweifel, so L., dass eine un­kritische Bibellektüre in den Fundamentalismus abgleiten könne. Ebenso bestehe die Gefahr, aufgrund eines naiven Wissenschaftsverständnisses zu einem reduktionistischen Positivismus verleitet zu werden. In beiden Fällen handle es sich aber um Missverständnisse. Grundsätzlich könnten die durch die Offenbarung empfangene Weisheit und die Wissenschaft als komplementär verstanden werden. Nach L. geben sie Antworten auf verschiedene Fragen, bleiben aber immer aufeinander bezogen. Berücksichtigt man, dass die Arbeit L.s im Rahmen eines von ihm initiierten interdisziplinären Projekts geschrieben wurde, haben seine methodologischen Überlegungen einen eher fragmentarischen Charakter und bleiben deshalb etwas unbefriedigend.
Es wird allerdings deutlich, dass L.s Hauptanliegen an einem anderen Ort liegt. Es geht ihm in erster Linie darum, die christliche Weltsicht, wie sie in der Tiefengrammatik der biblischen Textwelt zum Ausdruck kommt, dem Menschen der Gegenwart neu vor Augen zu stellen. Folgt man seinen eigenen Anweisungen, so dient seine Arbeit in erster Linie als Grundlage einer Lectio divina. Er möchte uns helfen, einen fundamentalen Blickwechsel zu voll­­ziehen. Einen Blickwechsel, der uns ein neues Weltverständnis er­schließt, in dem die Wirklichkeit sowohl in protologischer als auch in teleologischer Hinsicht von Gottes vollkommener Liebe be­stimmt ist. L. fordert uns auf, von einem »regard fragmenté sur un monde éclaté« zu einem »regard unifié vers un monde en communion« zurückzukehren (13). Den ersten Gesichtspunkt sieht er als charakteristisch für die Zivilisationskrise unserer postmodernen Welt, der zweite steht für die durch die göttliche Gnade erneuerte und transfigurierte Schöpfung.
L.s Betrachtungen zeugen von einer außergewöhnlichen exegetischen Meisterschaft, die er mit tiefen geistlichen Einsichten zu verbinden mag. Der Leser wird eingeladen, sich auf eine lange Reise durch die Textwelten der Bibel zu begeben, welche Geduld und Ausdauer erfordert. Aber die Reise lohnt sich. Auch der bibelkundige und exegetisch geschulte Leser wird durch die Lektüre bereichert. Hilfreich ist, dass die zentralen, von L. ausgelegten Bibelstellen gleich mit abgedruckt sind, was das Lesen des 600-seitigen Werkes wesentlich erleichtert. Der erste Teil ist der Schöpfung, der Ausbreitung der Sünde und dem Beginn des Erlösungswerkes im Weihnachtsgeschehen in Bethlehem gewidmet. Der zweite Teil beginnt mit der Taufe Jesu und endet mit seinem Kreuzestod und der Höllenfahrt. Der dritte Teil umfasst die Ostergeschichten, die Auffahrt, Pfingsten und die Herabkunft des Neuen Jerusalem.
Exegetische, linguistische und historische Analysen werden nie zum Selbstzweck erhoben, sondern dienen immer dem Ziel, den narrativ-diachronen Gesamtzusammenhang der im Alten und Neuen Testament bezeugten Heilsgeschichte deutlich zu machen. Hermeneutisch ausgedrückt ist für L. der spezifisch christliche Gebrauch der Intertextualität ein wichtiger Schlüssel zum richtigen Verständnis der biblischen Texte. Auch religionsgeschicht­liches Material wird beigezogen, insofern es ein erhellendes Licht auf eine bestimmte Perikope wirft. Die theologischen Hintergründe von L.s Bibelinterpretation werden im Buch jedoch nur selten explizit gemacht. Als einen seiner Haupteinflüsse nennt L. das Werk des bedeutenden katholischen Theologen Louis Bouyer (1913–2004), dem er auch persönlich nahe stand und dem das Buch an erster Stelle gewidmet ist. Von besonderer Bedeutung für das Projet Nouveau Regard ist seine Arbeit Cosmos. Le monde et la gloire de Dieu (Paris: Édition du Cerf, 1982). Bouyer war ein Vertreter der Nouvelle théologie und arbeitete an der Seite von Hans Urs von Balthasar, Jean Daniélou, Henri de Lubac und Joseph Ratzinger. Auch die orthodoxen Theologen Vladimir Losskij und Sergius Bulgakov haben sein theologisches Werk mitgeprägt. Besonders Bouyers Buch Sophia ou le Monde en Dieu (Paris: Édition du Cerf, 1994) steht unter dem Einfluss von Bulgakovs Sophiologie.
Eines der Hauptanliegen der Nouvelle théologie ist die Überwindung des seit dem Spätmittelalter in verschiedenen Formen dominant gewordenen Dualismus zwischen Schöpfung und Gnade. Diese Grundorientierung steht auch im Mittelpunkt von L.s interdisziplinärer Bibelexegese und bildet die theologische Basis seines Analogie- und Komplementaritätsverständnisses (vgl. 171 f. 202). Der spirituelle und der physische Aspekt der Wirklichkeit können nach ihm nur aufgrund ihrer Wechselbeziehung zueinander gedacht werden (538 f.). Einerseits wäre die spirituelle Welt ohne den analogischen Gebrauch von Bildern und Begriffen aus der physischen Welt nicht beschreibbar, andererseits ist sie aber causa exemplaris der physischen Welt. Erst die Sünde zerstörte die Harmonie zwischen diesen beiden Polen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass L.s Arbeit als An­weisung zur Lectio divina vorbehaltlos empfohlen werden kann. Dem interdisziplinären Anspruch hingegen, den er einerseits erhebt, andererseits aber wieder relativiert, kann das Buch nicht vollständig gerecht werden. Obwohl deutlich wird, dass L. sich auf die im Sinne der Nouvelle théologie verstandene Analogielehre stützt, wird nur ansatzweise deutlich, auf welche Weise sich diese für den interdisziplinären Dialog fruchtbar machen lässt.